Ernst scheint man auch den Bildungsauftrag gegenüber der Reisegruppe genommen zu haben, sie deuten an, sie hätten nicht unter 60 Medressen besichtigt, und zwar täglich, es klingt eine gewisse Kulturerbeerschöpfung durch. Schön ist, daß mir die Wissenschaftlerin erzählt, sie habe beim ersten Extrembesichtigen, als sie noch müde gewesen sei und zugegeben ihre Hausaufgaben nur halbherzig gemacht hatte, sich über die Stunden mehr und mehr verwunderte, warum die ganze Stadt voller Mätressen sei und welche historische Bedeutung denen wohl zukäme.
Drei Stunden später sind wir, schwuppdiwupp, in Samarkand, eine halbe Stunde früher, als in meinem Spickzettel angegeben. Ich nehme ein Taxi zum Hotel, checke bei einer sehr gut englischsprechenden jungen Frau ein, die dreißig Minuten später vom Erdboden verschluckt ist. Stattdessen muß ich versuchen, mit der wasserstoffblonden Souvenirshopbesitzerin und dem scheuen Hausknecht auf Russisch auszuhandeln, ob und wie ich mit Laptop Internetzugang erhalten könnte. Die Antwort lautet naturgemäß: Gar nicht. Njet. Es steht zwar ein Rechner in der Lobby – „Stunde Internet vier Dollar“ läuft als Screensaver darüber, was von wenig Realitätssinn zeugt –, wie der aber ins Netz kommt, es muß sich um ein Wunder handeln. Der Hausknecht jedenfalls versucht erst, einen total unpassenden Stecker in die Ethernetbuchse zu prökeln und dann anscheinend den USB-Drucker anzuschließen. Vielleicht frage ich mal lieber nach einem Internetcafé.
An der nächsten Kreuzung, erklärt die Blondine. In der Tat, sie hat recht. Dort lungert ein Haufen Teenagernerds rum und illustriert eindrucksvoll, wie Jugend durch exzessiven Computergebrauch verblödet. Daß man mich nicht versteht, als ich sage, ich wolle mit meinem Notebook ins Netz, ist verständlich, schließlich heißt „Notebook“ auf Russisch wie Usbekisch: Notebook. Daß man’s immer noch nicht versteht, als ich mein Notebook zeige, stimmt schon ein wenig bedenklich. Daß keiner einen Stadtplan begreift, ist hingegen normal; das können global tatsächlich nur ein paar kümmerliche Promille der Menschheit – wobei dies zu den Tatsachen gehört, mit deren Verständnis ich mich einst ungeheuer schwer tat, Karten sind mir als Teil meiner Welt derart selbstverständlich wie dem Teheraner das buntgefärbte Küken (siehe:
English for the Iranian Passenger). Daß keiner der Jungs allerdings weiß, wie die Straße heißt, an der ihr Internetcafé liegt, wirft Fragen auf. Vielleicht suche ich mal lieber nach einem anderen Internetcafé.
Ich gehe nach Süden.
Lonely Planets überaus rudimentärer Stadtplan weist zwar die Gegend, in der ich wahrscheinlich wohne, nur als weißen Fleck aus – Terra incognita, hier leben Ungeheuer –, ich wringe aus ihm aber genug Informationen raus um zu wissen, ich muß ganz sicher nach Süden, um überhaupt irgendwohin zu kommen. Gottlob scheint hier dauernd die Sonne.
Das
Orient Star läge in Laufweite zu den Samarkandschen Sehenswürdigkeiten, hieß es in einem hoteleigenen Infoheftordner, der noch älteren Datums zu sein schien als der
Lonely Planet Central Asia, und der ist schon kaum jünger als Timur Himself. Ich stelle fest, daß man hier „Laufweite“ ähnlich unkonventionell definiert wie „vegetarisch“ in Buchara. Nach staubigen Stunden, die ich die Steppe durchschreite, schweißüberströmt (muß hier eigentlich dauernd die Sonne scheinen?), befürchte ich, der turkmenischen Grenze bereits wieder nahe zu kommen.
Man verstehe das nicht als Klage, mitnichten! Es ist hervorragend, die Gegend zeigt sich liebreizend und derart attraktionslos, daß sie mir anderweitig vielleicht entgangen wäre. Es handelt sich um ein weitläufiges Wohnviertel, von der Straße zweigen links und rechts krumme Holperwege ab und verlieren sich zwischen einstöckigen Häuschen, einige bescheiden-gepflegt, andere hart an der Grenze zur Slummigkeit. Außerdem ist’s hier bloß mittags so versteppt, gegen Abend beleben sich die Straßen und Holperwege, man shoppt in Kleinstgeschäften, oder bei Straßenhändlerinnen mit Melonen und Fladenbrot, oder beim Greis mit dem Einzelzigarettenhandel, und sozialisiert, und natürlich muß ich keine Stunden, sondern nur 40 Minuten laufen. Woran ich Freude habe. Mir gefällt, welch eigenständige Identität das Viertel hat, es wirkt zur Abwechslung mal gar nicht russisch, sondern wahrscheinlich einfach nur usbekisch.
Sowohl westliche Tracht wird getragen als auch usbekische, letzteres bedeutet Käppchen beim Mann, ähnliche lange bunte Kleider wie in Turkmenistan bei den Frauen, mit schlicht im Nacken gebundenen Kopftuch, generell wirkt’s natürlicher und weniger kostümiert als bei den Turkmeninnen. Alle sind sehr freundlich, es helloen die Erwachsenen ebenso wie die Kinder, und die Soldaten auf dem Kasernenhof ganz besonders, die wollen allerdings keinen Bonbon oder nur im übertragenen Sinne. Im Wohnviertel wollen auch die Kinder keine Bonbons, das geht erst bei den Touristenattraktionen wieder los. Jeder zweite fragt, woher ich käme, und da Samarkand ja nun wirklich eine Touristenstadt ist, frage ich mich, wieso denen das nicht schon vor Jahren langweilig geworden ist. Daß dieses Viertel wirklich ein solch weißer Fleck auf der Touristenlandkarte ist, kann ich mir nicht vorstellen.
Großes Thema übrigens ist die Melone, in Honig- oder Wasservariante, wie schon in Turkmenistan, dort ist der Melonentag ein Nationalfeiertag. Überall werden Melonen in Hülle und Fülle von Melonenentrepeneuren angeboten. Schade, daß die Dinger so unhandlich sind als Snack
to go.
Nach 40 Minuten erreiche ich die sozusagen Mitte Samarkands. Von hier geht es links in den östlichen Teil der Stadt mit den historischen Sehenswürdigkeiten, rechts in den „russischen“ Teil mit dem echten Leben. Da ich dringend echten Lebens bedarf, der Infrastruktur wegen, zweige ich rechts ab, eine weitere hervorragende Entscheidung – die Stadt ist unheimlich hübsch, und das fernab ihres Kulturerbes. Alleen mit alten Bäumen, Parks, mit einer gesünderen Anzahl Springbrunnen ausgestattet als in Ashgabat und von Menschen belebt. Vor einem Repräsentativgebäude nutzt die Sarmakander Jugend eine Springbrunnenanlage als Freibad.
Dort allerdings, wo
Lonely Planet zu Timurs Zeiten ein Internetcafé verortete, hat die Mutter aller Stadtrestaurierungen stattgefunden. Über mehrere Blocks hat man die zwei- bis dreistöckigen alten Stadthäuser mächtig aufgemöbelt und buntlackiert, und zwar alle gleichzeitig, sie befinden sich im Stadium der Fastfertigkeit, nur ist noch nirgendwo wer eingezogen. Über mehrere Blocks. Was einen verwirrend potemkinschen Legoland-Effekt ergibt.
Da es in Legoland noch nichts gibt, gibt es auch kein Internetcafé mehr und ich drohe mal wieder zu verdursten, außerdem stehe ich hiermit in Sachen Internetcafé bei
Gehen Sie zurück auf Los. Alles überaus prima für den Freund der Stadterkundung via Problemstellung.
So finde ich quasi auf natürlichem Wege ins Zentrum der „russischen“ Weststadt: Die Navoi, eine baumgesäumte Einkaufstraße, alte Häuser rechts und links, alles ein bißchen zu unnatürlich neu aufgehübscht aber hier dann doch wieder besiedelt, geht nahtlos in den Navoi-Park über. Ich löse rechts und links am Wegesrand noch drei, vier Minderprobleme, betrete dann ein schmuckes Internetcafé, wo man mein Macbook kompetent einstöpselt und ich für zwei Stunden zermürbende Blogbilderhochladeprobleme 1.000 Sum bezahle (inzwischen eher fünfzig Cent, der Wechselkurs ist in Samarkand deutlich unschmeichelhafter als in Buchara, wer’s doch vorher gewußt hätte).
Entdecke, daß
Lonely Planet von einem vielversprechenden Restaurant just um die Ecke visioniert, das kurz vor der Eröffnung stehe. Es wird inzwischen von der Enkelgeneration betrieben, existiert aber noch, heißt
Venezia und hält, was es verspricht, nämlich Nahrungsmittel auf schlichter Pastabasis im Anschluß an die langen Schaschlikkapitel der Speisekarte. Die Magenkrämpfe beuteln mich nach wie vor, nachdem das Internet abgehakt ist, lautet die nächste Aufgabenstellung, was zu essen zu finden, das mich nicht umbringt. Esse Spaghetti und ein bißchen Salat ohne Dressing, mit Mayonnaise drohe man mir besser nicht. Am Nebentisch zwei Cargohosen, sie spielen mit ihren Laptops, habe ich anscheinend zufällig das einzige
Free WiFi Samarkands gefunden.
Ich laufe etwa eineinhalb Stunden zum Hotel zurück, dessen mal wieder einziger Bewohner ich zu sein scheine, jedenfalls beäugt man mich entgeistert, als ich nach einer Flasche Mineralwasser frage, sowas gäbe es hier nicht. Trinkende Gäste, wo kämen wir hin. Laufe ich also zurück zu den Läden an der Kreuzung, was spontan, da die Spaghetti sich gerade dazu entschlossen haben, mich doch umzubringen, nicht zu meinen Lieblingsproblemen gehört.
Ein großes Samarkander Mysterium: Jedes ca. fünfte Geschäft ist eine „Aviakassa“. Das muß ein Reisebüro sein, nein, das
ist ein Reisebüro. Auf die Ladenschilder sind Flugzeuge gemalt, es wird darunter für Flugbuchungen in diverse Städte, bevorzugt russische geworben. Im kleiner Gedruckten stehen Texte wie: Kaufen Sie mit uns Ihre Tickets, blahblah, Reisebüro halt. BLOSS: Wenn jedes ca. fünfte Geschäft ein Reisebüro ist, hieße das doch, da wir uns in einer Marktwirtschaft befinden, daß jeder Samarkander (es gibt wohl so 400.000, fast doppelt so viele wie Bucharaer) etwa zweimal täglich irgendwohin fliegen müßte, um all diese Aviakassas rentabel zu halten. In einer Straße komme ich auf 300 Metern an vieren vorbei. Das kann nicht sein. Niemals. Die Dinger müssen noch einen mindestens zweiten, geheimen Zweck erfüllen. Doch obwohl ich Thema, Fillialen, Kunden drei Tage lang scharf beobachte, komme ich nicht dahinter. Sollte ein Usbekistankenner mitlesen, bitte ich dringend um Aufklärung!
Irrelevantes Stück Aufklärung meinerseits: Stelle fest, daß Schwachmatensandalen nicht nur bescheuert aussehen, sie bewirken zudem bei dauerhaftem Einsatz in Gebieten mit starker Sonneneinstrahlung ein selten dämliches Bräunungsmuster auf den Füßen.
Und wer sich fragt, wozu diese Hotelpools im Gartenteichstadium, von denen auch das
Orient Star über ein Exemplar verfügt, eigentlich gut sind, schlafe eine Nacht bei offenem Fenster und finde heraus: Zur Mückenzucht.