Bis Dimitrovgrad lief alles hochkommod; nachdem ich den Schaffner, der mich beim ersten Zwischenhalt für’s Rauchen an der Zugtür tadelte, ausreichend handzahm charmiert hatte, durfte ich gar mit ihm und seinem Kumpel im hintersten Abteil herumrauchen, wobei wir höchst vergnügliche Gespräche über meine Reise, die Ehe und europäische Zigarettenpreise im Vergleich führten, in einem Festival von Mimik-Gestik-Körpersprache, mit gelegentlichen Gastauftritten von jeweils ca. fünf englischen und fünf russischen Wörtern.
Montag, 19. Juli 2010
19. Juli. Istanbul. Tango und Tötungsgründe
Katze
Bulgarische Paßkontrolle 2:30 Uhr. Wir zücken die Pässe im Schlaf, nur mit den fetten Frauen gibt’s undurchschaubare Probleme. Türkische Paßkontrolle 3:30, damit wir diesmal auch ein bißchen was davon haben, dürfen wir raus und Schlange stehen. Ich ahne sowas und bin hurtig die erste am Schalter, um mich wieder hinlegen zu können und gerade eingeschlafen zu sein, als die türkische Zollkontrolle um 4:30 durch den Zug kommt.
All das sind halt so Gegebenheiten. Die fetten Frauen allerdings sind ein Tötungsgrund. Die Tochter – ihre degenerierten Züge zeugen von Verwandtschaft – führt unablässig langatmige, lautstarke Gespräche übers Handy. Wenn gerade keiner anruft, führt sie langatmige, lautstarke Gespräche mit Mutti. Oder spielt auf dem Handy ein Spiel das sehr, sehr laut düddelt bei jedem Spielzug. Mutter hingegen macht um 5:30 das Licht an und beginnt, endlich mal nach all den Jahren, ihre Angelegenheiten zu sortieren. Unnötig zu erwähnen, daß weder Höflichkeit noch Ingrimm unsererseits in irgendeiner Form zur Kenntnis genommen wird. Herr, gib mir die Kraft, hinzunehmen, was ich nicht ändern kann; und zu töten, was derart an meinen Nerven sägt; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Ich versuche mir in Erinnerung zu rufen, daß sich zu ärgern nichts ändert, außer: man sich ärgert. Ein Meuchelmord hingegen änderte natürlich viel, bloß muß ich davon absehen: Sie sind fetter und fieser als ich, und zudem in der Überzahl.
Katatonisch schleppe ich mich um halb acht in den Transferbus, schlafe unruhig bis Istanbul und erwache dort weinend aus Albträumen (kein Scheiß!).
Istanbul funkelt in der Sonne, von mir kann man das nicht sagen. Die kranke Frau am Bosporus. Fahre mit Taxi ins Hotel, das ich gestern telefonisch klarmachte, beziehe winziges Zimmerchen mit Blick über die Dächer, bin begeistert. Ein Zimmer für mich allein. Das Badezimmer ist so klein, es dauert ein wenig, bis ich es finde, hat dann aber bizarrerweise eine Whirlpoolduschwanne. Um hineinzukommen, muß man über die Toilette klettern, egal, bin ich erstmal unter der Dusche, komme ich da eh die nächsten Tage nicht wieder raus. Bemerkenswert, wie überaus grindig man nach nur drei Tagen im Zug schon ist, trotz Seifenorgie hinterlasse ich Schmierspuren im Handtuch.
Eigentlich bin ich zu müde. Andererseits: Bin ich in Istanbul. Da ich in der Touristenhölle gelandet bin, ist’s zu den Kulturdenkmälern nicht weit, und da Kulturdenkmäler unseligerweise zumeist mit Menschenmassen verbunden sind, kann eine gewisse Sedierung nicht schaden. Ich hasse Menschenmassen.
Es ist übrigens heiß. Andauernd. Wer wissen will, wie heiß es ist: Meine Hautcreme ist schlecht geworden. Ich dachte, sowas beherrschen nur Milchprodukte.
Blaue Moschee
Ich schleppe mich zur Hagia Sophia, die wie jedes anständige Museum montags geschlossen hat, aha, ich bin deutlich noch in Europa. Besichtige ich halt Blaue Moschee und den Topkapi-Palast. Tausendundeinenacht-Schwelgereien, Bauhaus geht anders. Details entnehme man bitte Wikipedia.
Ich dinniere auf Dach und lege mich ein Stündchen schlafen. In einem echten Bett, toll, wow, unglaublich, was die Menschheit nicht so alles erfunden hat. Um neun stehe ich auf und versuche mit meinen mageren Ressourcen, mich in einen echten Menschen zu verwandeln, einen möglichst ansehnlichen, denn jetzt gehe ich Tango tanzen.
Wer wissen will, wie ein Tango-Dachschaden aussieht: Mein Gepäck für sieben Wochen besteht aus drei Hemden, zwei Tops, einem islamfähigen Langhemd, zwei Hosen, zwei Paar Schuhen, drei Paar Socken, sowie einem Doppelzentner Buch (unvermeidlich bei langen Zugfahrten). Aus meinen Reiseführern habe ich gnadenlos – Ich! Die ich keinem Buch was zu Leide tun kann! – zur Gewichtsreduktion jede einzelne Seite rausgeschnitten, die ich nicht brauche. Aber Tangoschuhe habe ich dabei, zumindest bis Istanbul.
Die Milonga findet in einem Hotel in Gehweite statt. Bei den ersten Tangoklängen durch die offenen Fenster fühle ich mich zu Hause. Ein verblüffender Effekt des Tangos ist, daß man fast überall in der Ferne darin & damit ein Zuhause hat. Daß in diesem Moment die Muezzins anfangen zu singen, fügt sich zu einer hübsch abwegigen interkulturellen Collage.
Eine bezaubernde Milonga. Wenig Menschen, die aber gemeinsam an großen Tischen dinnieren und zwischendrin und hinterher tanzen. Ich freunde mich mit drei jungen Istanbulern an, zwei Frauen, ein Typ, sie haben gerade erst mit Tango begonnen. Wir plaudern über Tango und die Welt, fahren hinauf auf die spektakuläre Dachterrasse – Istanbuls favorisierter Hochzeitsort mit Blick auf Bosporus, Blaue Moschee und Hagia Sophia – zum Rauchen, gehen wieder hinunter zum Tanzen.
Istanbul ist berühmt für seine Tangoszene. Ob man in Deutschland als Frau auch die Männer auffordere, fragt mich die Frau mit dem besten Englisch, eine Ärztin, in Istanbul tue man das. Ich tue das weder hier noch dort, sage ich, ich bin zu schüchtern.
Ich bin schüchtern. Was mir keiner glaubt, denn ich bin ein großer Kommunikator. Doch es kostet mich jedesmal und immer wieder und immer noch große Überwindung. Die ich nur aufbringe, weil es das wert ist. Es gibt nichts Aufregenderes als Menschen, im Vergleich dazu kann mir jedes Kulturdenkmal gepflegt den Buckel runterrutschen.
Gottob werde ich aufgefordert. Ich tanze mit Attila, der ganz und gar nicht so tanzt, wie man’s vom gleichnamigen Hunnenkönig erwarten würde. Dann tanze ich mit Serdar, der die Milonga organisiert, er unterrichtet auch, dementsprechend fabelhaft ist es, mit ihm zu tanzen. Zum Abschied schenkt er mir eines dieser blauen Augen aus Glas, zur Abwehr des Bösen Blickes. Kann nie schaden. Ich verspeche, wiederzukommen. Ich gedenke, das zu tun. Im Tango hat man nicht nur ein Haus in der Fremde, es wohnen auch bereits lauter Freunde darin. Durch warme Nacht und steile Gassen schlendere ich hoch zum Hotel und fühle mich durch und durch beglückt.
aus der Matrix