Ich entfliehe Sultanahmet, einem Inferno aus Backpacker-Bespaßung, Kleinhotels im Orientoverkilldesign und Kebabessereien, und erkunde Istanbul anhand folgender Bedürfnisse: Ich will einen berühmten Tangoschuster finden, in einer Gasse, die zu klein ist, auf Stadtplänen aufzutauchen, und die selbst der freundliche Hotelmensch nicht zu lokalisieren im Stande ist; ich brauche Duct Tape; ich hätte, eingedenk der Schmerzen im Bus, gerne ein kleines Kissen; und außerdem habe ich mein Sarong-Tuch daheim gelassen, zur Gewichtsreduktion, was sich umgehend rächt, so ein Ding hat etwa 200 Verwendungsmöglichkeiten, fünfzig davon irre praktisch, zehn unentbehrlich (Decke und/oder Laken in kalten oder schmuddeligen Zügen beispielsweise), ist ein bißchen wie mit dem Anhalter-durch-die-Galaxis-Handtuch (als Handtuch geht’s übrigens auch). Prompt habe ich Spaß.
Mit der hochmodernen Tram fahre ich über die Galata-Brücke in den echten Teil der Stadt. Hiermit möchte ich die dringende Bitte an die deutschen Eisenbahningenieure richten, sich doch mal von den Istanbuler Straßenbahningenieuren erklären zu lassen, wie man Schienenfahrzeuge klimatisiert. Vom Taksim-Platz gehe ich ein Stück die Hauptlebensader der Stadt entlang, die Istiklal, eine schwer sympathische Shoppingstraße, in der es alles gibt außer Duct Tape, Kissen und Baumwolltüchern, und die erfreulicherweise nicht ausschließlich aus denselben öden Hochglanz-Filialen besteht, die sonst überall den endemischen Handel ausgerottet haben. Beiderseits locken zudem kleine Passagen mit allem möglichen überraschenden Leben darin.
Ich zweige rechts ab, auf Tangoschustersuche, und befinde mich wenige Blocks weiter in einer anderen Welt. Gäßchen, Geschäftchen, es wird geschustert, geschneidert, gewerkelt, jegliche Form von Handel getrieben, und was aber ganz und gar neu ist für mich: Es gibt keine Frauen auf der Straße. Gar keine. Nicht mal eine Mutti, die einkauft. Es gibt Männer, Kinder und überproportional viele Katzen, und obwohl ich eine halbe Stunde im Viertel herumirre, in diverse Richtungen gewiesen von diversen sehr netten, sehr hilfsbereiten Menschen, die kein Wort Englisch sprechen, sehe ich keine einzige Frau. Es ist höchst befremdlich.
Mein Tangoschuster macht Ferien. Bis zum 26. August. Ich finde das heraus mithilfe eines weiteren dieser überaus bemühten Menschen, die dem doofen Touristen stets aus der Klemme zu helfen bereit sind (siehe auch:
Exkurs – Lebensform Tourist, demnächst auf diesem Blog). Die Sache mit dem Datum erklärt er mir anhand des Kalenders auf seinem Handy. So doof kann der Tourist gar nicht sein, als daß sich nicht immer noch wer fände, der’s ihm trotzdem zu erklären schafft.
Die Istiklal geht irgendwann in eine Straße der Musikinstrumente über, dann bin ich unten in Karaköy und es beginnt zu regnen. Per Tram fahre ich zurück, schaue kurz bei der Hagia Sophia vorbei, aber die Schlange am Eingang reicht von ihrem europäischen Beginn bis weit nach Kleinasien hinein, wenn ich das jetzt versuche, verpasse ich morgen abend meinen Zug.
Pflichtschuldig besuche ich stattdessen den Großen Bazar. Tolle Architektur, nerviger Gedönsverkauf. Im Anschluß ziehe ich durch echte wie durch Touristenviertel, durch Kleinstläden, Kaufhäuser und Supermärkte, und versuche überall mit großem Vergnügen und total vergeblich ein Kissen und ein Baumwolltuch zu kaufen. Ich lerne dabei, was
Kissen auf Türkisch heißt („Yastik“ o.s.ä.) und
Danke – bloß klingt das so ähnlich wie „Testikular“, und sowas laut auszusprechen, dazu bin ich zu verschämt.
Das Lustige ist, daß diese Stadt, zumindest in den Touristenvierteln, eigentlich aus nichts anderem besteht als Kissenbezügen. Maßlose Kunsthandwerkkissenbezugmengen, man könnte jedem eurasischen Haushalt zwei zuteilen und sie würden immer noch nicht knapp. Bloß Kissen gibt’s keine. Der Rest der Stadt besteht aus Tüchern und Schals, auch ihre Zahl ist Legion, nur sind die ausschließlich aus Pashmina (zu warm) oder Seide (Quatsch).
Gab’s da nicht mal diesen Song: It’s like ten thousand spoons when all you need is a knife?
Duct Tape übrigens finde ich bei einem charmanten Eisenwaren-und-Ganz-Was-Anderes-Höker; auch welche Warenangebotszusammenstellungen verschiedene Völker für sinnvoll und plausibel erachten, ist stets ein Quell von Staunen und Freude.
Abends besteige ich ein Taxi, um zum Taksim-Platz zu fahren, wo eine der vielen heutigen Milongas stattfindet. Ich begehe den ersten Fehler, in dem ich, Macht der Hamburger Gewohnheit, vorne einsteige, was man eigentlich nirgendwo sonst tut. Daß ich an meinen ersten Tunichtgut gerate, dafür kann ich nichts.
Häßlicher Honk am Steuer. Erkläre häßlichem Honk Adresse, häßlicher Honk fährt los, ohne das Taxameter anzustellen. Sage häßlichem Honk wohllaunig-streng, er solle das Taxameter anmachen; häßlicher Honk sagt: Jaja. Ich sage scherzend (hilft oft!), ich zahlte genau das, was auf dem Taxameter stände, stehe da nichts, bekäme er kein Geld; häßlicher Honk sagt: Jaja. Okay, sage ich, und vollziehe eine Aussteigepantomime (wozu ich eigentlich zu faul bin, außerdem bin ich spät dran, sonst hätte ich eh die Tram genommen), häßlicher Honk stellt Taxameter an. Manchmal muß man nur kurz klären
who’s boss, ist wie bei Caniden.
Manchmal nicht. Häßlicher Honk palavert in schwer verständlichen Zungen, gräbt mich an und faßt mich am Knie. Beim zweiten Mal sage ich wohllaunig-streng
do not touch me; er sagt Jaja. Beim dritten Mal scheiße ich ihn zusammen. Manchmal muß man zweimal klären
who’s boss.
Manchmal nicht.
This driver very good, preist er sich an und referiert klar auf seine maskulinen, nicht auf seine fahrerischen Qualitäten; ich sage: Jaja, und denke
this driver gleich very dead, wenn du so weitermachst, mein kleiner Freund. Ich behalte das Taxameter im Auge, der Sauhund schafft es trotzdem, mich auszutricksen, als ich auf meiner Zielstraße nach Hausnummern spähe, schaltet er das Ding wieder aus.
Als wir anhalten, hätte er gern eine Phantastillion von mir. Nachttarif koste doppelt. Ich sage, Widerlingtarif aber koste eigentlich gar nichts, ich gäbe ihm trotzdem zehn Lira, denn der letzte Betrag, den ich gesehen hatte, lag bei acht. Er lamentiert, ich sage ihm, solle er doch die Polizei rufen, er vollzieht Polizeianrufpantomime, mir wird’s zu blöd, ich gebe ihm noch eine Handvoll Kleingeld, zwei Lira vielleicht, und führe draußen noch eine expressive Autonummeraufschreibpantomime auf. Bei der Rückfahrt finde ich heraus, der reguläre Preis hätte bei etwa 17 gelegen, habe also ich ihn noch gelinkt, ich empfinde Befriedigung.
Wunderschöne Milonga-Location, eine Terrasse mit Blick über den nächtlichen Bosporus. Ein jungenhafter Typ fordert mich zum Tanzen auf, Özar, er verfügt über perfektes Englisch und guten Sinn für Humor, arbeitet am Finanzmarkt und tanzt sehr schön. Er lernt Chinesisch, nicht, weil er nach China will, sondern um eines Tages die klassische Chinesische Literatur im Original lesen zu können. Wir reden über China, Tango und die Welt; dann tanzen wir wieder. Bei „Bahia Blanca“ ein kleiner Flashback – dazu überkam mich in der Nacht vor meiner Abreise plötzlich so etwas wie echter Abschiedsschmerz. Wie sonderbar, zum selben Tango jetzt am Ende Europas zu tanzen, und morgen Abend geht der Zug nach Teheran. Özar und ich tanzen und schnacken bis morgens um zwei, vollendeter Gentleman, der er ist, begleitet er mich danach zum Hotel Marmara, wo vertrauenswürdige Taxen zu finden sind. Wieder geht eine dieser Begegnungen zu Ende, die so typisch für’s Reisen sind, mit einem Menschen, den man nie wiedersehen wird; gerade deshalb verbleiben sie als kostbare Solitäre in der Erinnerung. Die unvermeidliche Wehmut dabei paßt übrigens ganz gut zum Tango. Schätze, für den nächsten werde ich mich bis Peking gedulden müssen.
http://identi.ca/notice/43399422 u.A.
ich lese beigeistert Deine Reisegeschichten, sehr lebendig, besonders die Tangonächte in Instanbul.
Die Box kam an, E ist schon lange aus meinem Leben verschwunden. Ich vergesse auf Gletschern und anderen alpinen Routen.
Alles Liebe und pass gut auf Dich auf !
A