Beim Auschecken treffe ich einen jungen Deutschen, der morgen nach Syrien weiterfahren wird und gestern Unholden in die Hände fiel. Die netten Jungs, die ihn zur Kneipentour einluden, preßten ihm spätnachts 550 Euro ab, mit begleitender Drohkulisse am Geldautomaten. Er nimmt’s sportlich; wir sind uns einig, daß man solche Risiken nicht vermeiden kann, will man sich nicht seine ganze Reise dadurch verhunzen, in dem man per se in jedem Mitmenschen den Beutelschneider vermutet.
Ich schwimme mit kräftigen Zügen quer über die Straße und schlage mein Quartier im
Topdeck Café auf, wo ich gestern, in einem Anfall brillanter Feilschfähigkeit, ein Zimmer für den Tag zum Spottpreis mietete. Normalerweise kann ich nicht feilschen, trotz all meiner Reiserei, ich haße es. Mein Lieblingsreisemensch Schneider sagte einst, feilschen bedeute halt, man gehe von vorneherein davon aus, beide Seiten seien Betrüger. Will man mir mal einen echten Scheißtag bereiten, läßt man mich in einer Menschenmasse um eine Tasse Nescafé feilschen.
Da ich aber im Höchstmaße unwillig war, einen ganzen Tag weder zu wissen wohin mit mir noch mit meinem Gepäck, und außerdem scharf war auf
Free Steckdose, residiere ich also nun für acht Stunden und schmales Geld in einer der Backpacker-Kemenaten über dem
Topdeck Café, einer totalen Bruchbude, aber einer sehr liebenswerten Bruchbude. Es ist das perfekte Base camp für einen Sintfluttag, ich verlungere ihn unten in einer orientalischen Lungerecke auf dekorativen Kissen, schreibe, rauche, sehe in den Regen hinaus, trinke literweise Kaffee. Plaudere mit einem der Betreiber, wir hören kurdische Musik, er ist Kurde; früher durften wir das nicht, sagt er, unsere Musik hören. Abends um acht nehme ich von Karaköy die Fähre nach Haydarpasa, sehr malerisch legt sich derweil Dämmerung über die Stadt.
Touristische Hasenfußphantasmen. Ich sollte eigentlich gegen sowas inzwischen immun sein, doch nein, auch ich verfalle ihnen immer mal wieder. Vielleicht ein bißchen kirre gemacht von der Mahnung des sehr netten Menschen aus Teheraner Reisebüro, ich solle mindestens eineinhalb Stunden vor Abfahrt dort sein, hat Haydarpasa in meiner Phantasie inzwischen sehr konkrete Formen angenommen. Haydarpasa, der Absprungbahnhof in den Nahen Osten und nach Asien. Das Tor zum Orient, into the Great Unknown. Sehen wir ihn nicht vor uns, den chaotisch-orientalischen Trubel einer Karawanserei, schreiende und wimmelnde Menschen, die große Ballen von Seide oder Gewürzen auf und von den Kamelrücken werfen, fliegende Händler, die dem Reisenden allerlei Viktualien feilbieten, barfüßige Jungs, blinde Bettler, Schlangenbeschwörer? Ich nehme an, die eineinhalb Stunden werde ich benötigen, um mich von Derwisch zu Derwisch nach meiner Karawane durchzufragen.
Mein Weltbild entstammt
Tim und Struppi. Haydarpasa sieht von außen aus wie Versailles und von innen auch. Der Marmorboden ist so gepflegt, man könnte davon essen, wär’ aber schade, man verpaßte das liebliche kleine Restaurant im Glanze von 1900. Daneben Friseursalon und Wartesaal aus derselben Epoche. Vor den Gleisen Beete mit Palmen, Blümchen, Azaleen. Die Gepäckschließfächer arbeiten mit derart hypermoderner Computerelektronik, daß ich befürchte, entweder durch einen Systemabsturz mein Gepäck zu verlieren oder die Bedienungsanleitung gar nicht erst zu verstehen. Wimmeln tut hier gar keiner, meine Schritte verhallen in den musealen Gewölben.
Ich trinke bis zur Abfahrt Tee bei einem kleinen Kiosk-Café draußen am Wasser und schreibe; selbst hier hat’s
Free Wifi. Dann frage ich den nächsten Derwisch nach meinem Zug, kann anhand der Fahrkarte überhaupt nicht begreifen, in welchen Wagen ich gehöre, drücke schließlich einem jungen Mann, der fragt, ob er helfen könne, und den ich aufgrund seines weißen, überaus gestärkten Hemdes für einen Offiziellen halte, meine Fahrkarte in die Hand.
Der reicht sie an seinen Kumpel weiter, der damit verschwindet. Seinen ungestärkten Kumpel. Ich begreife zu spät, daß die beiden keineswegs irgendwelche Befugte sind. Ich frage mich, ob ich mich sorgen sollte, entscheide dann aber, dies sei einer dieser Fälle, wo man durch Default-Mißtrauen wirklich nette Begegnungen verpassen kann; und siehe, ungestärkter Kumpel kommt alsbald mit einem Offiziellen zurück, deren gestärkte Hemden nämlich blau sind. Man weist mir einen Platz zu, ich teile das Abteil mit Katy, einer jungen Italo-Iranerin, und N. aus Teheran, die ihre studierende Tochter in Istanbul besucht hat. Wir plaudern bis zwei Uhr morgens, richten dann unsere Lager her, fahren ostwärts into the Great Unknown.