Die Infrastruktur macht’s einem leicht. Es fließen mittlerweile auch endlich mal
Free Wifi und
Free Steckdose in Strömen, bloß habe ich nichts davon, den Teufel werde ich tun, meine vier Tage Teheran im Hotel zu verbringen. Gestern abend erwarb ich ein Metroticket für zehn Fahrten, natürlich ist die Metro ebenfalls durchgehend zweisprachig. Sie ist bislang auch nur zweistreckig: Eine fährt von links nach rechts, eine von hoch nach runter; ich, die ich gestern hoch gegangen bin, fahre heute runter, nach Süden. Die zukünftigen Metrostrecken¬pläne sind ebenso ehrgeizig wie notwendig, die Stadt erstickt an ihrem Verkehr, die spektakulären Berge im Norden verschwinden tagsüber im Smog, die Teheraner fahren wie die Henker, die Verkehrsmuster entstammen dem Albtraum eines Teppichwebers auf LSD und das Straßeüberqueren ist nur fast nicht ganz so schlimm wie im
Lonely Planet beschrieben.
Die Metro hingegen ist klasse. Sauber und auf der Höhe der Zeit. Vorn und hinten gibt es Waggons für Frauen, man kann die anderen aber genauso benutzen, nur in den Bussen ist getrennt sitzen Pflicht. Die Frauenwagen sind meist weniger überfüllt, also warum nicht. Es sprechen mich übrigens auch Tschadorträgerinnen überaus herzlich und neugierig an, junge wie alte, nur sprechen sie kein Englisch, und mit Farsi bin ich nicht weiter als
klein, groß, Ja, Nein, Hallo, Auf Wiedersehen, Kaffee und
Danke, letzteres heißt
Merci, das krieg ich hin.
Den Vormittag mäandere ich durch die Gewölbe und überdachten Gassen des großen Basars. Macht Spaß – ich kenne bislang nur die hochtouristischen Basare von Marrakesch und Istanbul, dies aber ist naturgemäß ein reiner Gebrauchsbasar. Es wimmelt, wuselt und handelt, und keiner nervt. Nicht mal die Teppichhändler, ich kürze jede Teppichdebatte mit der Erklärung ab, ich reise per Bahn von Deutschland nach China, und da sei unterwegs der Nutzwert noch des schönsten Kelims eher gering. Man zeigt sich verständnisvoll, plaudert stattdessen ein bißchen, erklärt mir den Basar und wo darin die Moschee zu finden sei, nur ein junger Kerl versucht, mir für die Reise einen fliegenden Teppich zu empfehlen.
Im Durchgang zu einem alten Kuppelgewölbe spricht mich Mustafa an. Er ist dreißig, wirkt aber mit seinem hohen Haaransatz irgendwie älter. Mein erster Eindruck ist: Ein trauriger kleiner Mann. Ein schüchterner Nerd. Sein Englisch ist lausig, und doch arbeitet er so hart daran, Englischlehrer zu werden. Er kommt aus einer kleinen Provinzstadt und ist nur zu Besuch in Teheran, um Englischlehrbücher zu kaufen, er lernt per Fernstudium. Und er träumt, wie so viele, vom Ausland.
Wir unterhalten uns sicher eine Stunde lang, ich nehme an, es hat ihn all seinen Mut gekostet, mich anzusprechen. Wie ein kleines Gespenst steht er vor mir im Halbdunkel des Basares. Er zeigt mir seinen Bogen mit Prüfungsfragen, es wird im Multiple-Choice-System hochspitzfindige Linguisten-Grammatikterminolo¬gie abgefragt, von der ich nicht die geringste Ahnung habe. Mustafa hingegen kennt noch nicht mal das Wort „appreciate“ (er läßt es sich aufschreiben), und es ist nicht gänzlich unwahrscheinlich, daß dies sein allererstes Gespräch auf Englisch ist.
Seine Muttersprache ist Azari, eine Turksprache aus dem Norden Irans. Ich kann mich nicht erinnern, daß er während unserer Unterhaltung einmal gelächelt hätte, und auf dem Foto, das ich von ihm mache, ist seine Gestalt geisterhaft verschwommen. Er sei dreißig, erzählt er mir irgendwann, und er habe noch nie eine Freundin gehabt, nicht mal eine platonische. Das gesellschaftliche System mache es einem unmöglich, Mädchen kennenzulernen, jedenfalls in einer Kleinstadt wie der seinen. Aber wenn er nur genug Englisch lerne, dann könne er weggehen. Ins Ausland. Wo alles anders sei. Nach Istanbul vielleicht, Türkisch lernen fiele ihm als Azari leicht. Ob man nach Europa dürfe, wenn man eine europäische Frau heirate? Er sei schon dreißig, er habe nicht mehr viel Zeit. Aber er wolle und könne und werde nicht aufgeben. Er müsse es ins Ausland schaffen, er habe nur ein Leben, da müsse er um seine Träume kämpfen.
Hätte ich mich nicht irgendwann verabschiedet, stünde ich wahrscheinlich immer noch da, beim hartnäckigen, einsamen kleinen Mustafa. Es tut mir leid, zu gehen. Er tut mir leid. Er bleibt stehen, seine Aktentasche mit den Büchern vor der Brust wie einen Rettungsschwimmkörper. Um ihn branden die Wogen des Basars.
All die Gespräche in diesen vier Tagen. Keines davon wird von mir initiiert, man spricht mich an und beginnt, ungefragt, zu erzählen, und ich tue, was der gute Reisende tut: Ich höre zu.
Ich höre viel von Verbitterung, Frustration, Wut, Resignation. Und jede Menge sarkastischen Galgenhumor. Alle lieben ihr Land, alle wollen ins Ausland; die, die’s nicht wollen, haben bloß schon aufgegeben. Natürlich sind meine Gesprächspartner nicht repräsentativ – nur auf Englisch findet überhaupt ein Gespräch statt, und nur die Gebildeten und (nicht ausschließlich, aber größtenteils) Jungen und, wahrscheinlich, mehr oder weniger Wohlhabenden sprechen Englisch. Das Wort „Freiheit“ fällt in diesen Tagen öfter als daheim in einem ganzen Jahrzehnt. Kleiderordnungen hingegen erscheinen in dieser Perspektive von banaler Zweitrangigkeit; klar, auch auf meiner persönlichen Liste von Lieblingsmenschenrechten rangierte das Recht auf Spaghettiträger nicht notwendigerweise in den Top Ten. Und schon im Zug begann ich, die bösen Albtraumgeschichten zu hören im Zusammenhang mit den Demonstratio¬nen nach der Wahl.
„Vielleicht werden unsere Kinder Freiheit haben, irgendwann, in dreißig Jahren“, sagt mir ein lässiger Typ; er ist Mitte Zwanzig. Dann, als wir ein Gruppenfoto von uns machen, ich in ihrer Mitte, sagt sein Freund an der Kamera „Say ,Ahmedinedschad’ and smile!“, als er den Auslöser drückt.
Vom Basar versuche ich vergeblich, den Weg zum Golestan Palast zu finden – das einzige, woran’s wirklich hapert, ist ein guter Stadtplan, ich laufe ein Stück hin und ein Stück her und stelle fest, daß man hier die Querstraßen vergessen hat. Dann halt per U-Bahn. Der Golestan Palast aber macht gerade Mittagspause, irgendwie sind ich und die Kulturdenkmäler derzeit nicht auf Du und Du. Ich trinke erstmal im Basar Melonensaft – an jeder Ecke gibt’s ein Lädchen, in dem frische Fruchtsäfte gequirlt werden, das macht mich froh. Wenn’s schon keinen Kaffee gibt. Der Chay, der hiesige Tee, ist ausgezeichnet, wird aber auch dadurch niemals den Makel überwinden können, kein Kaffee zu sein.
Details zum Golestan Palast entnehme man bitte Wikipedia – nein, ich bin kein solcher Kulturbanause, wie ich hier möglicherweise zu sein den Eindruck erwecke, bloß sind diese Einträge eh viel zu lang, man halte Romanschriftsteller dringend vom Bloggen ab.
Dann wieder nach Norden. Über den Imam-Khomeini-Platz, ein paar Stationen Metro, ich besehe mir die US-Botschaft bei Tageslicht, man sieht nur schier endlose rote Mauern, an der Südseite die berühmten Graffitis, die ich nicht fotografiere, weil sie schon totfotografiert sind, außerdem ist’s eh nicht erwünscht.
Wie in Permanenz wiederholte Bilder ein ganz falsches Bild ergeben können. Ich habe die antiamerikanischen Botschaftsmauergraffitis so oft gesehen, man könnte denken, ganz Teheran sei derart bemalt. In Wirklichkeit sehe ich außer hier nur noch ein einziges
Down-with-the-USA-Wandbild und eine einzige mit bärtigen Männern (die irgendwas mit Mazar-e Sharif zu tun haben) dekorierte Hausfassade. Lebende Vollbärte sehe ich, außer an Mullahs, gar keine, und das Stadtbild dominiert, wie überall, Werbung. An der Botschaftsstraßenecke der einzige Shop mit Extremistenbedarf, dem ich begegne, und die Geschäfte scheinen eher schleppend zu laufen. Ich persönlich würde lieber einen Handyladen aufmachen, ein jeder telefoniert, spielt, fotografiert, tippt SMS, allerdings ist die Valiasr Ave. weiter oben bereits gesäumt mit Elektronik-Shoppingmalls.
Die Widersprüche und der ständige Bruch mit unseren Teheranklischees. Neben einem großen Khomeinibild eine weitere Kirche. Eine Tschadoristin mustert ein Schaufenster mit den buntesten, überkandideltesten Phantasieprinzessinnen-Abendkleidern, die ich jemals sah. Hippe Gören ziehen untergehakt mit Tschadorfreundinnen kichernd durch die Straßen, die Parks und Cafés wimmeln von jungen Pärchen – die, wie ich höre, bei familiärem Verständnis bisweilen auch durchaus unverheiratet zusammenleben. Die iranische Bevölkerung ist unglaublich jung, und das daraus resultierende Unterangebot von Jobs, insbesondere qualifizierten, ist problematisch; allein deswegen wollen viele ins Ausland. In den Dauerstaus dröhnt aus offenen Autofenstern iranischer Hiphop, am Zaun dahinter reihen sich gelbe Tafeln mit Koransprüchen, einer gefällt mir in Sachen Mit-wie-viel-oder-wenig-Mißtrauen-sollte-man-reisen sehr gut:
Avoid much suspicion since in some cases suspicion is a sin.
Ich bummele durch Straßen, Parks, Malls, wende mich gen Abend zurück nach Süden und esse in einem vom sehr netten Menschen aus Teheraner Reisebüro empfohlenen Hotelrestaurant zu Abend, wiederum zu früh, das Restaurant ist so leer, wie es bunt ist. Auf der Toilette habe ich Backsigmantel gegen frisch erworbenes Büßerhemd getauscht, das mit nahezu frivoler Luftigkeit schmeichelt; bloß ein Kopftuch mit einer derartig nonchalanten Eleganz zu tragen, wie es die Teheranerinnen tun, will mir nicht gelingen, ich sehe damit immer irgendwie aus wie Zwerg Nase.
Apropos Nase: Unübersehbar im Stadtbild die vielen Leute, Männer wie Frauen, mit Nasenpflaster; die Nasen-OP gilt geradezu als Prestigemerkmal. Es existiert gar ein Markt für OP-Tourismus, die Teheraner Chirurgen sind nicht nur im Schönheitsbereich berühmt.
Das Restaurant füllt sich mit einer großen Männergruppe, vielleicht ein Fest, vielleicht eher eine Tagung. Mir tun die Füße weh, die Teheraner haben recht, ich laufe zu viel, gottlob habe ich mir in Sofia Schwachmatensandalen zugelegt (siehe:
Lebensform Tourist, inzwischen tatsächlich auf diesem Blog!). Wiederum überdosiere ich an Kebab. Wie man in dieser Hitze solche Tiermengen verzehren kann, wird das wahre ungelüftete interkulturelle Geheimnis bleiben.
Noch ein irrelevantes Detail zur Nacht: Immer wieder sagen mir die Teheraner, daß
Tina ein beliebter iranischer Name sei. Was sie mir verschweigen und ich erst im Supermarkt herausfinde:
Tina ist in erster Linie der Name einer beliebten Toilettenpapier- und Damenhygienemarke. Na denn. Ich deute Weichheit gänzlich neu.