Zunächst habe ich mir noch ein bißchen Sorgen gemacht, wie das denn wohl so gehen wird, wir zwei untereinander Sprachlosen den ganzen Tag zusammen unterwegs, aber siehe: Alireza läuft zur Höchstform auf. Geradezu minütlich spricht er mehr Englisch (wünschte, ich käme in dem Tempo mit Farsi hinterher!), krumm und schief, aber wir verstehen uns. Gen Nachmittag, als wir zurück Richtung Zentrum fahren, wird er, selbst verblüfft, anmerken, wie total problemlos wir uns verstehen, abends wird er mir komplexe Geschichten erzählen können. Mächtig plietsch, ist er, der Junge, man hat bloß das Gefühl, er sei auch generell mächtig unterfordert. Geschwind beginnt er, meine Spiegelreflexkamera ansatzweise zu verstehen, etwas, woran alle Leute allüberall total scheitern, schon das Halbrunterdrücken des Auslösers für den Autofokus ist kaum wem beizupulen, oder daß man durch den Sucher schauen muß anstatt auf’s Display – einer der Gründe, warum hier so wenig Bilder von mir zu sehen sind. Alireza aber entwickelt nicht nur Verständnis, sondern auch kreativen Ehrgeiz. Jemand sagt mir später, das sei ein epidemisches Phänomen unter Teherans Jugend: Viel Talent, das aus Mangel an Herausforderung und Perspektive verkümmere.
Wir fahren zunächst zum Imam-Khomeini-Mausoleum. Alireza, nunja, stimmt nicht gerade Fangesänge an. Er scheint an Khomeini hauptsächlich zu schätzen, daß man bei ihm kostenlos parken kann. Eine gewaltige Anlage, im Zentrum ein Kuppelgebäude mit vier Minaretten und einem Baukran, rechts und links zwei symmetrische Flügel mit wiederum jeweils einem Kuppelbau. Auch der Parkplatz ist schier endlos. Überall, wo ein paar Bäumchen Schatten spenden, campen Familien in Zelten, picknicken, halten Siesta. Der Iraner ist ein großer Picknicker.
Die ganze Sache ist überraschend relaxt. Ich habe nachgelesen, Khomeini selbst habe es so gewollt, sein Mausoleum solle eher ein anheimelnder Ausflugsort sein als eine streng sakrale Andachtsstätte. Ich ziehe mir trotzdem den solideren Hemdenmantel über’s H&M-Shirt und rücke das Kopftuch zurecht. Wir trennen uns vor den geschlechterseparierten Eingängen, was ungeschickt ist, so muß ich allein das Gepäckdepot für meinen Rucksack suchen. Führe noch ein kleines semiverbales Fußballgespräch mit dem dortigen Garderobenmenschen, einem Bayern-München-Fan; wär’ ich doch Bayern-München-Fan, man glaubt gar nicht, wo auf der Welt ich überall schon Gesinnungsgenossen gefunden hätte, in jedem abgeschiedensten tiefafrikanischen Kral sitzt immer noch ein Bayern-München-Fan.
Semiverbales Fußballgespräch geht derzeit natürlich total einfach: „Germany, England“ (wird immer verstanden), plus gehässige Freudentanz-Pantomime. „Germany, Spain“, flennendes Zusammenbrechen. Garderobenmann und ich haben Spaß. Auch der Typ an der Schuhgarderobe ist unglaublich nett und zuvorkommend, und die Frauen der Security-Kontrolle begrüßen mich herzlich mit „Welcome to Iran!“.
„Anheimelnd“ ist natürlich so eine Definitionsfrage. Das Gebäude sieht von innen aus wie ein Flugzeughangar, den man mit Perserteppichen ausgelegt hat. Unter der hohen Decke verläuft ein offenes Gewirr von Rohren, sonst ist alles eher schlicht. Aber sympathisch. Natürlich wird dem Grab große Verehrung entgegengebracht, und es wird auch durchaus gebetet, ansonsten aber schlendern die Leute durch die große Halle, lassen sich zu kleinen Ruhegrüppchen nieder (die Geschlechter vermischen sich hier drinnen wieder), und stärken sich mit Getränken und Snacks. Kindern wuseln herum, eine nicht unbeträchtliche Anzahl Besucher macht Mittagsschläfchen.
Draußen entdecke ich, daß im rechten Flügel unter der ehrfurchtgebietenden Kuppel eine kleine Shoppingmall untergebracht ist. Mit Supermarkt, DVD-Geschäft, Haushaltwaren und höchst weltlichen Souvenirs. Und wieder mal sind meine Vorstellungen an der Realität glatt zerschellt.
Beim Schrein Shah Abdol Azims, eines Nachfahren von Imam Hussein, geht es schon gemessener zu, außerdem, wie Alireza anmerkt, kostet das Parken hier Geld. Ich leihe mir am Eingang einen Tschador, blauweiß geblümt, es reichte eigentlich, ihn mir um die Schultern zu legen, ich bin ja aber immer mal lieber extra höflich und drapiere ihn mir über den Kopf. In die Höfe können wir noch gemeinsam gehen, sie sind umringt von Haramgebäuden großer Schönheit. Filigran verzierte Kuppeln, Minarette, mosaikverspiegelte Portale, und vor allem diese unglaublichen Fliesenfassaden, die mich ganz schwach machen, ich bin ein großer Verehrer der orientalischen Fliesenkunst. Im Zentrum des Hofes ein Brunnen, an denen sich die Besucher Gesicht und Hände waschen. Schilder weisen den Weg wahlweise ins Astronomiezentrum oder zum Geschirrspülen.
Ins eigentliche Heiligtum geht es wieder getrennt nach Männern und Frauen, Alireza wartet draußen auf mich und paßt auf Rucksack und Kamera auf. Ich folge dem Strom von Frauen und schüchtere ziemlich, ich trage Sorge, versehentlich was Blödes zu tun und damit die Gefühle der Gläubigen zu verletzen. Auch hier aber ist die Atmosphäre, obzwar deutlich kontemplativer, unangespannt. In den äußeren Bereichen herrscht gedämpft-soziales Leben, man ruht aus, liest, redet. Innen gibt es mehrere Schreine, leider gibt der Reiseführer so gut wie keine Informationen preis, und Alireza kann ich natürlich nicht fragen, die Geschlechter ziehen getrennt ihre Runden. So begnüge ich mich damit, Atmosphäre und Architektur zu inhalieren.
Die kleinen Säle mit den Schreinen sind zur Gänze mit Spiegelmosaiken ausgekleidet und in ätherisches grünes Licht getaucht, in der Mitte befindet sich in einem goldenen Gitterkasten das Heiligtum, die Frauen drängen sich heran, berühren das Gitter, streichen dann mit der Hand über ihr Gesicht. Zurückhaltend wandele ich eine halbe Stunde im inneren Haram umher, und lasse die Eindrücke auf mich wirken.
Der äußere Hof hat einen direkten Zugang zum Basar, und so bummeln wir im Anschluß ein bißchen, umkreisen den bescheidenen Zentralplatz von Rey (so heißt die Stadt, die inzwischen eher ein Vorort Teherans ist). Dann fahren wir, entweder ist’s Alirezas Idee oder er wurde von seinem Cousin instruiert, zu einem Friedhof. Auch dort gibt es einen Schrein, er ist aber winzig, und die Etikette sind lax. Selbst fotografieren darf man. Wir setzen uns eine Weile hinein, es ist schön kühl, und plaudern. Was, wie gesagt, immer besser geht – es ist erstaunlich, was alles geht, wenn man will. Wer hätte gedacht, daß sich via Pantomime tatsächlich fast sofort darauf kommen läßt, das von Alireza gesuchte englische Wort laute „human“. Ein freundlicher Herr mittleren Alters, der mitgehört hatte und später im Vorraum sitzt und Schriften studiert, bestätigt uns das und läßt sich noch zwei-, dreimal als Dolmetscher einspannen.
Auf dem Friedhof zeigt mir Alireza das Grab des nationalen Sporthelden Takhti. Der war ein Ringer, und die Pantomime, mit der Alireza mir das klarmacht, die hätte ich gern auf Video. Er führt einen Ringkampf mit sich selbst auf, der, wenn’s nach mir ginge, olympisch mindestens Silber bekäme.
Überhaupt haben wir unheimlich Spaß. Und gelegentliches Nicht- bzw. Mißverstehen trägt dazu durchaus bei, so zum Beispiel als Alireza mich mit ernsthafter Beflissenheit fragt, ob ich gerne einen Rollstuhl hätte – worauf ich ihm dann wieder pantomimisch erkläre, was ein „wheelchair“ sei, und wir uns beide beölen. Oder als er vorschlägt, wir könnten ja jetzt, da die Innenstadt immer noch für seinen Wagen gesperrt sei, nach Farahzad fahren, dort habe es so schöne Planeten. Es dauert etwas, bis ich dahinter komme, und ihm den Unterschied zwischen „plants“ und „planets“ erklären kann.
Wir lassen uns an Fahrazads Amüsierstraße in einem hübschen Restaurant nieder, im Schatten von Bäumen diverse Lungerlager, die meisten belegt, um einen Springbrunnen gruppiert. Alsbald gesellt sich auch Peyman wieder zu uns, wir essen verschiedene Schaschliks, rauchen hinterher Qalyan – mache ich zum ersten Mal, ist nett und schmeckt sehr pflaumig, wie auch jeder Atemzug in den darauffolgenden drei Stunden –, trinken Chay, und ich bekomme vorher sogar noch einen echten Espresso. Wir schnacken, machen Quatsch und etwa 200 unglaublich alberne Fotos mit meiner Kamera. Das Problem bei dieser Lungerlagerkultur: Man mag gar nicht recht wieder aufstehen.
Bei Einbruch der Dunkelheit tun wir’s dann doch. Ob ich Lust hätte, Paintball zu spielen, fragen mich die Zwei; klar hätte ich Lust, Paintballspielen in Teheran, hat ja auch noch nicht jeder gemacht. Wir fahren raus nach Tochal – ebenfalls auf der Liste der mir seitens meines Vertrauenspersers empfohlenen Orte, eine weiterer Bergausflugsvariante, hier hat es eine Seilbahn, die tagsüber via mehrere Stationen den Fast-Viertausender Mt. Tochal hochfährt. Wo man nahezu ganzjährig Skilaufen können soll, schwer zu glauben bei 40° unten im Tal. Die Seilbahn hat zwar schon Feierabend, aber das Amüsemang am Hang über der Talstation groovt sich gerade erst ein.
Wiederum bin ich verblüfft. Aufgekratze Menschen noch und nöcher vertreiben sich die Nacht mit allem Möglichen und Unmöglichen. Paintball ist leider für Frauen nicht erlaubt, Saubande; na, egal, dann gehen wir halt Bogenschießen. Wobei ich mich als ganz besonders untalentiert erweise. Eine junge Frau instruiert uns nachsichtig, meine Pfeile fallen trotzdem auf halbem Wege ohnmächtig aus der Luft. Neben uns trainiert Robin Hood mit Profibogen, ansonsten dominieren ausgelassene Stümper wie wir die Anlage. Etwas tiefer am Hang eine Eisbahn, von der laute Trance-Musik erklingt. Über uns stürzt sich alle zwanzig Minuten jemand vom Bungee-Turm in die Tiefe, ich mache mein Bogenversagen ein wenig wett dadurch, daß ich erzähle, ich sei schon mal Bungee gesprungen, was Alireza und Peyman ziemlich beeindruckt. Bungee dürfen angeblich auch Frauen, wir stellen uns das mit Tschador recht malerisch vor.
Nachdem wir unsere Pfeile verschossen haben, besehen wir uns den kleinen Markt, wiederum sorgt Alireza dafür, daß ich alles, was ich nicht kenne, zu kosten kriege, ist aber kein großes Kunststück, die Leute sind wie stets ebenso neugierig wie überschwenglich freundlich. Welcome to Iran.
Männer in sonderbarer Kluft eilen an uns vorbei, es ist eine kurdische Volkstanzgruppe, wir schauen ihrer Aufführung zu, dann entfernen wir uns ein Stück aus dem Trubel und schauen einfach nur den Lichtern Teherans zu, die unter uns funkeln und den Himmel über der Stadt erhellen. Hundert Teheraner tun, auf einer langen Mauer sitzend, das gleiche. Ein großer runder Mond scheint auf uns nieder.
Der Bus, der uns vorhin hochgebracht hat, fährt nicht mehr, wir müssen die lange, gewundene Straße zu Fuß zurück, was mir gefällt und die zwei Jungs ein bißchen quenglig macht. Peyman ist sowieso nicht gut drauf, er hat Ärger mit seiner Freundin, immer wieder führt er erregte Debatten am Handy, einmal versucht sich auch Alireza als Vermittler, scheint aber wenig zu helfen.
An der Talstation setzen wir uns noch in eines der vielen kleinen Cafés, ich bestelle mir einen Melonensaft, was die total falsche Wahl ist. Alireza und Peyman wissen, woher der Hase weht, und essen die sagenhafteste Eisbecherkreation der Welt, anscheinend eine iranische Spezialität, mit Nüssen und Soße und irgendwas Gequirltem aus dem Mixer, Mann, und davon erfahr’ ich erst am letzten Tag. Alireza, der gute, teilt seinen Eisbecher mit mir, ich nehme das gerne in Anspruch.
Interessiert beobachte ich die Leute, vor allem die Frauen sind sehenswert. Ein verbreiteter Trend ist, den vom Kopftuch bedeckten Hinterkopf zu verlängern, mit etwas, das von der Form her entweder eine zusammengerollte Katze oder die Mutter aller Bienenkorbfrisuren ist. Erstaunlich. Da ich Heimtier- und Haarteilgeschäfte in ungefähr gleicher Zahl gesehen habe, käme beides in Frage. Ich frage Alireza, wie die das machen, aber er versteht die Frage in dem Sinne wohl nicht, wie Peyman meine Faszination von den gefärbten Küken nicht verstand, weil’s wohl so normal ist, man kommt gar nicht drauf, es könnte auch anders sein. „It’s beautiful“, sagt Alireza nur. Vielleicht ist es auch eine gewiefte Strategie: Vergrößere ich mein Kopfvolumen auf das Doppelte, kann ich mein komplettes Eigenhaar zeigen, und trotzdem ist immer noch die Hälfte des Kopfes bedeckt. Wie genau es funktioniert, das wird leider ungeklärt bleiben.
Weil es ja auch erst Mitternacht ist, wird Kurs auf den nächsten Ort in den Bergen gesetzt, aber als wir dort parken und die Zwei mal kurz verschwinden, fährt ein Depp seinen Wagen im Rückwärtsgang die Straße runter und dengelt mit Schmackes in Alirezas Auto. Was ihn nicht weiter stört. Ich alarmiere Alireza, der hurtig dem Vandalen hinterherprescht. Es folgt ein Palaver, das ich zunächst für einen Streit halte, es endet jedoch in Verbrüderungsumarmungen. Delle sei blöd, aber ja nicht so groß, erklärt Alireza mir (in Deutschland hielte man sie für größer als den Baikalsee), und wenn man die Polizei deswegen rufe, gäbe das zwei Stunden Nerv, und darauf habe keine der Parteien Bock gehabt.
Bei mir meldet sich jetzt gerade die Stimme der Vernunft, und da das nicht so oft geschieht, beschließe ich, auf sie zu hören. Ich muß morgen um 5:15 aufstehen, um 5:45 kommt das Taxi, das mich zum Bahnhof fährt, gepackt habe ich noch nicht und wir brauchen sicher noch eine Stunde durch die Stadt bis zum Hotel – vielleicht sollte es das nun einfach mal gewesen sein. Es fällt nicht leicht. Wir fahren Peyman nach Hause, und der Abschied fällt erst recht nicht leicht. Alireza, der seit zwei Stunden immer mehr insistiert, von mir Englisch beigebracht zu bekommen, bietet mir an, mich morgen, naja, nachher zum Bahnhof zu fahren, aber ich lehne ab, er soll mal schön ausschlafen.
Der Abschied von Alireza ist einfach nur schrecklich, richtig schrecklich. Wie kann man denn bitteschön jemanden in nur eineinhalb Tagen derart ins Herz schließen? Was haben wir für Spaß zusammen gehabt heute. (Und was übrigens würden die Mahner und Warner daheim dazu sagen, daß ich in Teheran in erster Linie
Spaß hatte?) Wir umarmen uns, und dann umarmen wir uns nochmal, und sagen Tschüß und Unsichtbare Näherei, und dann umarmen wir uns doch noch mal. Ich will wiederkommen, ich muß
unbedingt wiederkommen, nächstes Jahr wird’s wohl nicht gehen, aber 2012 vielleicht. Hoffentlich. Inschallah.