Nach etwa zwei Stunden beginnen etwa zweihundert Wegweiser darauf aufmerksam zu machen, es gelte nach Bajgiran demnächst die Ausfahrt zu nehmen, worauf der Fahrer natürlich fuffzig Meter dran vorbeifährt, zurücksetzen muß und sich dabei mit großem Rawumms vom mit 180 kmh folgenden Wagen den Rückspiegel abfahren läßt. Er zuckt nicht mal mit der Wimper. Rückspiegel, total überschätzt.
Die Bajgiran-Straße ist schmal und drumrum ist nichts, außer Bergen, die an Größe, Karheit und Wildheit zunehmen. Ich habe schon seit der Autobahn die Karte mit meiner Reiseroute vor Augen, die mein Leibkartograph mir anfertigte, und bin fasziniert von diesem Doppelbild. Eine lange rote Linie, einmal quer durch die wohlvertrauten Umrisse Eurasiens. Man kann die einfach mal so einzeichnen. Und man kann sie einfach mal so entlang fahren. Die Autobahn mit den Uturns, diese Bergstraße mit den Serpentinen, die Schienenstrecken am breiten Fluß in Kurdistan entlang oder durch die Wüstenei zwischen Teheran und Maschhad: Das ist meine rote Linie, manifestiert in echten Straßen und Wegen und Gleisen. Die leeren mehr oder minder bekannten Umrisse der Staaten, mit feinen schwarzen Strichen abgegrenzt, sind voll mit Landschaft, Leuten, Gerüchen, Farben, Sprachen und Schriften. Wie eine Folie lege ich meine Karte über die Wirklichkeit und notiere im Geiste, auf welchem Punkt der roten Linie ich gerade bin. Ein merkwürdiges Brain-game.
Gut, daß ich hier nicht irgendwo auf den Bus warte oder ein Taxi – es fährt (oder wohnt) hier nämlich außer uns kein Schwein. Ich probiere Notfallkommunikation mit Fahrer, ich sage „Toilet?“, was er überhaupt nicht versteht, klar, denn auf Farsi heißt das: Toilet. Mit französischer Betonung auf der zweiten Silbe. Ich denke an Alireza und die verblüffende Erkenntnis, wie viel mehr Kommunikation doch eine Frage des Willens ist als eine der Sprache, ein fast ketzerisches Eingeständnis für einen Sprachfreak wie mich.
Auch so einer der Vorzüge des Reisens: Man muß Dinge erstmal
nicht haben, um große Freude empfinden zu können, sind sie dann wieder verfügbar. Schlichte Dinge: Eine heiße Dusche, eine kalte Dusche, überhaupt irgendeine Dusche. Essen, Wasser. Eine Toilette, verdammich. Der sadistische Sauhund fährt an mindestens zwei Pinkelgelegenheiten vorbei, nehme an, hier pinkeln Frauen nicht. Möge der Teufel auch noch deinen zweiten Rückspiegel holen, du Aas. Aber Kommunikation ist eine Frage des Willens. Und ich WILL pinkeln, TOILET!!! Endlich hält er an, wo’s ein Toilettenbretterbüdchen gibt und anscheinend ein kleines Heiligtum; als wir weiterfahren, schenkt er mir einen Keks und ein Bonsche, und ich bin prompt wieder versöhnt.
Schließlich künden Aberdutzende am Straßenrand parkende Tank- und Schrottautolastwagen davon, daß wir uns der Grenze nähern. Ich bin aufgeregt. Meine rote Linie quert hier einen der dünnen schwarzen Striche. Ich liebe Landgrenzübergänge, die bizarre Erfahrung des Grenzübertritts, nicht verwässert vom sterilen Flughafenprozedere, das sich überall gleicht (naja, außer in Kinshasa). Ich bin immer aufgeregt, obwohl ich mir nie was zuschulden kommen lassen würde, ich schmuggele keine einzige Zigarette zu viel. Ich habe schon tolle Grenzen erlebt, einmal in Mittelamerika hielt der Pick-up, auf dessen Ladefläche ich saß, mitten in einer bis zum Horizont reichenden Bananenplantage, und ich stieg um auf die Ladefläche eines anderen, quasi identischen Pick-ups, und fuhr weiter, das war die Grenze. Deutlich einleuchtender und hübsch symbolisch: Grenzflüsse mit Brücken.
Diese Grenzstation liegt auf einer Bergkuppe. Mein Fahrer, obwohl seine Lächelgesichtsmuskeln schon vor Jahren atrophiert sind, ist gar nicht so fies oder kriegt Ärger, wenn er mich einfach am Straßenrand aussetzt, oder will sichergehen, daß ich mich auch ja rausschere aus seinem Land, jedenfalls erkundigt er sich bei einem Grüppchen herumlungernder Männer, ob wir hier richtig seien. Wir sind’s. Ich nehme meine Rucksäcke und betrete das Grenzgebäude, einen spartanischen beigen Betonkomplex.
Zuerst denke ich, ich habe mich versehentlich in die Grenze für Männer verirrrt. Nur Kerls, wenige, sie verlieren sich im großen, schwach beleuchteten Gebäude. „Passport?“ frage ich in die Gegend, man weist mich weiter. Dann kommt ein Zöllner auf mich zu, lächelt, ist unglaublich nett, beäugt salopp meinen Paß, erklärt mir in mittelgutem Englisch, ich müsse mir dort vorn am Schalter einen Stempel von der Polizei holen. Ich gebe denen meinen Paß, mit Gesten bedeutet man mir, mich in die leeren Wartestuhlreihen zu setzen. Auf einem Flachbildschirm laufen Nachrichten auf Farsi mit englischem Ticker darunter, leider hauptsächlich auf iranische und israelische Außenpolitik und das Spannungsfeld dazwischen beschränkt; ich habe kaum noch Ahnung, was sonst in der Welt so vor sich geht, aber naja, die Welt, die Gute, die wird auch mal ein paar Wochen ohne mich auskommen.
Flüchtig erhasche ich einen Blick auf den ersten Westler seit Ankunft in Teheran. Und, was soll ich sagen: Cargohose und Schwachmatensandalen! (Siehe:
Lebensform Tourist). Ich lach’ mich scheckig.
Ein letztes Mal heißt es „Welcome to Iran“. Auf einer verblichenen Malerei mit Landschaft und Khomeini, gedacht für den Reisenden in anderer Richtung. „Welcome to Iran“, lautet es, „Land of Guardianship and Martyrdom“.
Ich habe mich kaum hingesetzt, da winkt mich mein Zöllner zu seinem Büro zurück, ich erwarte quälende Formalitäten und Formulare, aber nein, er bietet mir nur einen Tee an, um mir das Warten zu versüßen.
Ich bin perplex. Ich bin an vielen Grenzen gewesen, einige Grenzer sind ganz nett, überproportional viele enorm biestig, aber einen Tee habe ich noch nirgends angeboten bekommen.
Den Tee wiederum habe ich kaum ausgetrunken, da gibt’s bereits den Paß zurück. Mehr als zwanzig Minuten hat der Spaß nicht gedauert. Einem Jüngling im Separatbüro muß ich noch Paß präsentieren, aber hauptsächlich deshalb, weil er mich persönlich aus dem Iran verabschieden möchte. Dann werde ich aus der rückwärtigen Tür gewinkt.
Ich laufe zwanzig Meter ein staubiges Stück durch die Sonne, zeige in der Mitte zwei jungen iranischen Soldaten meinen Paß, sie lächeln und verabschieden sich im Namen Irans. Ich gehe ein paar Schritte, vom Gebäude, auf das ich zugehe, lächelt mir bereits milde Präsident Gurbanguly Berdymukhamedov entgegen. Ich bleibe stehen. Ich stehe auf der imaginären dünnen schwarzen Linie. Ich drehe mich um und blicke zurück. Iran. Ich muß unbedingt wiederkommen, mit mehr Zeit. Für Teheran. Und natürlich will ich Isfahan und Shiraz und Yazd sehen. Und vor allem würde ich gerne die ländlichen Gegenden kennenlernen, etwas, was bei diesem Trip leider flachfällt. Auch wenn ich meinen Jahresurlaub nicht notwendigerweise in Maschhad verbringen möchte, so verwette ich doch meine Rückspiegel darauf, daß für ein Land, dessen Grenzsoldaten lächeln und dessen Zöllner einem Tee anbieten, die Teheraner repräsentativer als die Maschhader sind. Ich blicke zurück und denke an all meine Begegnungen in Teheran. Dann blicke ich auf den Paß in meinen Händen und frage mich zum zehntausendsten Mal, womit ausgerechnet ich diesen Paß und alles, wofür er steht, verdient habe. Dann gehe ich nach Turkmenistan. Ich bemühe mich dabei, nicht auf die schwarze Linie zu treten, das bringt Unglück.
Turkmenistan macht Mittagspause. Das Gebäude ist sehr leer, dann erscheint doch noch ein junger Soldat mit einem enorm großen Hut, und hinter der Barriere mit X-Ray-Gerät und Detektorschleuse taucht eine Frau mit leicht pumuckelhaften Haaren auf und winkt: Lena, meine Reiseführerin. Man braucht einen Guide, will man Turkmenistan als Tourist bereisen, aber warum nicht, ich habe mit Guides beglückende Begegnungen erlebt und einen Zugang zum Land, von dem ich allein nicht zu träumen gewagt hätte. Turkmenistan kostet 12 Dollar Eintritt, man holt die Kassiererin vom Mittagessen, Lena macht für mich währenddessen irgendwas Zollrelevantes, schließlich ist auch ein Mensch zurück, der meinen Paß anguckt, dann bin ich in Turkmenistan. Das Röntgengerät übrigens ist entweder reine Deko, oder der Röntgenmeister hatte keine Lust, sein Essen kalt werden zu lassen.
Lena begrüßt mich, sagt mir, ich könne das Kopftuch abnehmen – richtig, da war doch was –, stellt nach fünf Minuten bereits die Frage, ob ich rauche und trinke, und seufzt erleichtert, als ich bejahe. Sie ist 47, spricht verblüffenderweise ein prima Deutsch, und die Pumuckelhaftigkeit geht auf einen Friseurunfall beim Färben zurück. In einer Woche wird sie zum ersten Mal nach Deutschland fliegen, für vierzehn Tage, auf Einladung Andreas, eine ihrer Touristinnen, versprochen hätten ihr das schon viele, aber Andrea sei die erste, die Wort gehalten habe. Lena freut sich ein Loch in den Bauch. Wir warten draußen auf einen Shuttle-Mikrobus und rauchen erstmal. Ich krempel die Ärmel des Höllenhemdes hoch, und mir wird leicht zumut. Kopftuch ist kein Beinbruch, aber ich sage Euch: Wind in den Haaren ist was ganz, ganz Feines!
Es weht ein starker Wind hier oben. Leider ist natürlich überall im Grenzgebiet fotografieren verboten, ein Jammer, es ist herzzerreißend schön. Man stelle sich einfach vor dem inneren Auge ein möglichst tolles, wildes, filmreifes, zentralasiatisches Grenzgebirge vor, durch das man sofort in Begleitung von Kara Ben Nemsi reiten muß, und genauso sieht es aus.
Endlich kommt ein weißer Mikrobus, dessen Fahrer eigentlich lieber erstmal Mittagspause machen würde, er läßt sich dann aber doch zum Fahren überreden. Und das tut er mit Verve. Es führen Serpentinen bergab, und eine Serpentine, die man mit weniger als 80 Sachen fährt, macht bekanntlich keinen Spaß. Ich sitze vorne, klammere mich an den Griff über dem Beifahrerfenster, Sicherheitsgurte gibt es nicht, aber allzu sehr am Leben hängen ist schließlich spießig, ich genieße Fahrtwind und Landschaft und habe Spaß, während wir zu Tal donnern.
Bald sieht man Ashgabat in der Ebene, entweder ist das Ashgabat oder eine Fata Morgana oder mir hat der Zöllner was in den Tee getan. Ashgabat. Mir fehlen die Worte. Sollte ich morgen welche finden, werde ich von Ashgabat berichten.
jetzt wollte ich mich doch auch mal zu Wort melden. Auch wenn sich die Kommentarschreiber hier ja noch ein bißchen zurückhalten, bin ich sicher, daß es vielen schweigenden Lesern so wir geht: ich freue mich jedes Mal nen Keks, wenn Sie wieder einen neuen Text geschrieben haben und genieße es sehr, so schöne, bunte und wohlformulierte Einblicke in andere Länder und deren Bewohner zu bekommen. Ich hoffe auf noch viel Free WiFi und Free Steckdose auf der kommenden Route und natürlich auf viele Interessante Begegnungen und Lust zum Schreiben bei Ihnen
Danke.
In Sachen Kommentararmut:
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Das nervt.