Von meinem High-End Hotel
Gran Turkmen, überaus zentral gelegen, wandere ich bei 40° sechs Stunden durch die Stadt, die in ihrem „Zentrum“ (das sich problemlos über sechs Stunden erstreckt) aus ausschließlich weißem Marmor besteht, was in der gleißenden Wüstensonne eigentlich nur mit Schweißerbrille machbar ist. Südlich des Hotels befindet sich auf diversen Quadratkilometern das Regierungsviertel, das aussieht, als hätten sich Zeus und Walt Disney zusammengesetzt, um mal richtig einen druffzumachen. Heidewitzka. Titanische Paläste reihen sich aneinander, eine Orgie aus Säulen, goldverspiegelten Fensterfassaden, Triumphbögen, griechisch-römisch-unorthodoxer Tempelhaftigkeit, zügelloser Gigantomanie und güldenem, in Ermangelung eines besseren Begriffs möchte ich es mal unter „Zierat“ zusammenfassen. Der Präsidentenpalast selbst trägt drei goldene Kuppeln, überhaupt floriert die Vergoldung, diverse Goldstatuen des alten wie des neuen Präsidenten wirken trotz Überlebensgröße vor den gewaltigen Ministerien wie Nippes. Man holt sich umgehend Genickstarre, Schwindel und einen leicht verblödeten Gesichtsausdruck.
Keine Fotos, leider. Mir wurde gesagt, ich dürfe problemlos fotografieren, außer die Regierungsgebäude, vor denen Soldaten oder Polizisten stünden. Bloß: Sind
alles Regierungsgebäude, und
überall stehen Soldaten und Polizisten. Ich bin eigentlich gar kein begeisterter Fotografierer, hier aber blutet mir das Herz. Das glaubt nämlich zu Hause kein Schwein.
Ich bin allein unterwegs, ist kein Problem. Lena hat mir zwar ihre Begleitung mit Fahrer und Sightseeingtour angeboten, doch obwohl Erläuterungen selten sinniger gewesen wären, habe ich erst abgewägt, dann abgelehnt. Zum einen genieße ich nichts mehr, als mir eine Stadt selbst zu erwandern, mit der Freiheit, jeder interessanten Abzweigung und jeder meiner Grillen folgen zu können; zum anderen hat Lena heute Geburtstag, und ich finde, man sollte seinen Geburtstag nicht damit verbringen, Touristen durch die Gegend zu schieben.
Zur Stadtspaßintensivierung (siehe:
Das Kennenlernen von Städten) benötige ich heute: Bimsstein! Crazy, hm? Doch ach, ich bin kaum aus dem Hotel in den gegenüberliegenden Russenbasar gehumpelt, schon halte ich nach fünf Minuten einen Bimsstein in der Hand. Was, bitteschön, soll man sich denn noch einfallen lassen.
Quasi direkt hinter dem Hotel steht der
Bogen der Neutralität, eine Art eifelturmförmiges Gebilde, an dessen Spitze sich ein goldener Turkmenbashy (a.k.a. Präsident Niyazov, verstorben 2006) mit der Sonne dreht, auf daß sein Gesicht nie im Schatten liege. Bzw. drehte und lag. Der Turm wird von einem Baukran überragt und ist in Gerüst und Plane gekleidet, Lena wird mir erklären, daß diese Denkmäler sukzessive abgebaut werden und an einem dafür neugeschaffenen Platz am Stadtrand wiedererrichtet. Stattdessen soll es einen neuen, noch größeren Turm geben, heißt es.
Gegenüber das Mahnmal für die Opfer des großen Erdbebens. 1948 wurde Ashgabat, mit neun bis zehn auf der Richterskala, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Über dem subterranen (und geschlossenen) Museum erhebt sich eine Bronzeweltkugel auf den Schultern eines Stieres, aus deren Kruste gequälte Menschen ragen, zuoberst hält eine Frauengestalt ein güldenes Kind empor: Den kleinen Turkmenbashy.
Drumherum ein Park. Überhaupt gibt es viele, viele, große, große Parks. Mit Springbrunnen. Ich habe noch nie soviele Springbrunnen gesehen, auf jeden Ashgabater (rund 600.000 soll es geben) müssen zwei bis drei Springbrunnen kommen, übertroffen wird ihre Zahl nur durch die Anzahl der Parkbänke. Gesamteurasien könnte sich an einem Sonntag in den Parks Ashgabats treffen und keiner müßte stehen. (Sie könnten dazu ihre Istanbuler Kissenbezüge mitbringen, darauf säße es sich gemütlicher).
Apropos sitzen: Sitzen tut keiner in den Parks. Spazierengehen auch nicht. Die einzigen Menschen, die ich gelegentlich sehe, sind welche, die Springbrunnen reparieren.
Überhaupt macht Ashgabat den Eindruck, als habe man bei der Konzeption der Stadt vergessen, daß Leute drin wohnen könnten. Wiederum ein Omega-Mann-Gefühl, maximiert durch diese Überarchitektur. Bizarr. Was es an Parkbänken zu viel hat, hat es an Fußgängerampeln zu wenig; wozu die Mühe, muß man sich gesagt haben, hier geht eh kein Mensch. Und recht haben sie: Es gibt genausoviele Fußgänger wie Rumsitzer: Keine. Weil Ashgabat nicht nur im Zentrum eine gewaltige Baustelle ist – der Paradeplatz am Präsidentenpalast eine umzäunte Baugrube von der Größe Belgiens – sondern auch fast überall sonst, hat man kurzerhand die Gehwege ebenfalls mit Bauzäunen abgesperrt, was mir haarsträubende Kilometer am Rande von sechsspurigen Straßen abverlangt (Autofahrer gibt’s dann doch ein paar, außer Sonntags).
Ich gehe dem nächsten Phantasma entgegen: Nach Süden, vor dem Hintergrund der Berge, erstrecken sich, streng in Flucht gebaut, schlanke, weißmarmorne Türme, deren Reihen am Horizont fatamorganahaft in der flirrenden Hitze verschwinden. Nebenbei – dies ist eine völlig idiotische Reisezeit für Zentralasien, viel zu heiß, die heutigen 40° können als milde gelten, letzte Woche waren’s zehn bis fünfzehn Grad mehr. Aber ich will ja am 1. September in Shanghai sein, also gab’s keine Wahl.
So sehr sich die Türme von Ferne zu gleichen scheinen, kommt man näher, unterscheiden sie sich in Säulenanzahl und -einsatz, Bogenfensterfassaden, Zierrat und verspielter, bunter Dachkuppelgestaltung. Was es nicht weniger, sondern bloß anders bizarr macht.
Die Straßen sind ungeheuer breit und zunehmend leerer. Auf den Gehwegen, so sie nicht abgesperrt sind, könnte ein Tieflader einen anderen überholen. Bloß sind die Bäumchen, die sie säumen, ganz offensichtlich brandneu gepflanzt, was immer hier vorher war, ist entweder planiert worden, oder es gab gar nichts außer Wüste. Das Resultat: Kein Schatten. Nirgends. Geht man für ein paar Kilometer an einem der Wellblechbauzäune entlang, strahlt dieser Hitze ab wie ein Grill. Es ist eine ganz, ganz blöde Idee, hier spazierenzugehen.
Obwohl ich, je weiter ich den
Turkmenbashy Boulevard stadtauswärts spaziere, zunehmend an alten Sowjet-Wohnblocks vorbeikomme, gibt es nirgends einen Laden. Ein Geschäft. Ein Café. Ein Restaurant. Irgendwas, das eine Stadt normalerweise für ihre Menschen bereithält. Der Effekt ist verblüffend – als wandele man durch Gottes Modellbauanlage. Verstärkend wirkt die nahezu vollständige Abwesenheit irgendwelcher Werbeplakate, nur die (einzige) staatliche Mobilfunkgesellschaft wirbt bisweilen, was ohne Konkurrenz irgendwie eher dekorative Zwecke erfüllt. Schöne Schilder, die in paradiesischen Malereien vom künftigen Gesicht der zahllosen Bauprojekte künden, gibt es allerdings, sowie einige, die Gegenwart und Zukunft Turkmenistans in jeglichen Aspekten visualisieren und preisen, und Präsident Berdymuchamedovs ikonengleiches Konterfei lächelt zuversichtlich von jedem zweiten Gebäude.
Nebeneffekt der Großen Leere ist Dehydration – nirgends eine Möglichkeit, eine Wasserflasche (siehe:
Lebensform Tourist) zu kaufen. Apropos: Irgendwann sehe ich doch einen Menschen. Er glaubt, nur weil er sich mit einer schwarzen Jeans anstelle einer Cargohose getarnt hat, sei er nicht als Tourist zu erkennen, aber die Wasserflasche unter seinem Arm verrät ihn; und siehe, da bleibt er auch schon an der Straßenecke stehen und zückt den
Lonely Planet, um sich anhand des – ganz lausigen – Stadtplans zu verorten.
Nach ca. drei Stunden erreiche ich das Einkaufszentrum
Ympasch, Lena hatte es mir auf der Fahrt von der Grenze gezeigt. Dank des dortigen Supermarktes und mehrerer Gallonen Wasser gelingt es mir, meinen Zustand zu stabilisieren. Ich überlege, ein Taxi zum „Turkmenbashy Cableway“ zu nehmen, einem Ausflugs- und Aussichtsort, entscheide mich dann dagegen und biege rechts ab, einer weiteren Ballung lovecraftscher weißer Türme entgegen. Smart move übrigens, der Cableway sei geschlossen, erfahre ich von Lena.
Auf einem anderen Boulvard gehe ich ins Zentrum zurück, vorbei am Turkmenbashy-Vergnügungspark, der jedoch ebenfalls geschlossen ist. Glatt eines Coffeetablebooks wert: Die Ashgabater Straßenlaternen, in ihrer ganzen überkandidelten Diversität. Ach, würde ich doch im nächsten Leben als turkmenischer Straßenlampendesigner wiedergeboren! Auf dem Weg ein weiterer ausgedehnter Park, in dem sich Springbrunnen und Parkbänke einen schönen Tag miteinander machen. Außer den Springbrunnenklempnern begegne ich noch zwei Teenagerjungs, die ein Foto von mir wollen – ich gelte als Sehenswürdigkeit.
Schön übrigens: Obzwar das Rauchen theoretisch meistens untersagt ist, ist es de facto dann doch fast immer möglich – außer überall unter freiem Himmel. Straßen, Plätze, Parkbänke. Da ist man streng. So wird mir im Frühstückssaal des Hotels in Turkmenbashy selbstverständlich ein Ascher hingestellt werden, raucht man aber aus Unwissenheit an einer großen, menschenleeren Ausfallstraße, halten die Autofahrer und mahnen. Ist’s die Polizei, die hält, kostet es einen turkmenischen Monatslohn Strafe. Ich bin begeistert und räume Ashgabat den zweiten Platz auf der Hitliste der total bizarren Raucher¬gesetzgebungen ein, gleich nach Boston, wo das Rauchen auf der Straße im Umkreis von 50 Metern um Hotels und Ladezonen (!) verboten ist.
Das turkmenische Rauchverbot kam derart zustande, daß seine Ärzte einst Turkmenbashy dringlich vom Rauchen abrieten. Und da wir ja alle wissen, wie es ist mit dem Aufhören, man schafft’s mit Ach und Krach und wird dann, in gemütlicher Gesellschaft von anderen Rauchern doch wieder rückfällig, hat er kurzerhand dem ganzen Land das Rauchen verboten. Das nenne ich ebenso clever wie konsequent.
Unschön übrigens: Nun bin ich es zwar gewohnt, daß allüberall auf dieser Welt eigentlich ausschließlich Instantkaffee getrunken wird, hatte aber stets das Gefühl, dies sei Resultat eines fundamentalen Desinteresses an Kaffee. Die Turkmenen jedoch scheinen nachgerade
besessen von dem Zeug – im
Ympasch stehe ich, starr vor Entsetzen, im Angesicht eines acht Meter langen Regals, das schier birst vor verschiedensten Instantkaffeesorten. Der richtige Kaffee ist mit zwei Marken á je fünf Packungen in die äußerste Schämecke verbannt. Ein herzzerreißender Anblick. Und mit Lena werde ich drei Tage später ein hippes Café besuchen, das zwar echten Espresso, Cappuccino und Café Latte auf der Karte listet – allerdings zuunterst der sechs verschiedenen Instantkaffeemarken, die angepriesen werden, als seien sie nicht nur zum menschlichen Verzehr geeignet, sondern ein
Genuß. Die trinken das tatsächlich freiwillig, die Turkmenen. Geheimnisvolles Zentralasien.
Ich bin reichlich platt, als ich nach sechs Stunden zurück zum Hotel gelange, außerdem schmerzen meine Füße (zuviel akkumulierte Hornhaut ist überall tief eingerissen, die Risse haben sich entzündet, deswegen der Bimsstein, falls sich jemand wundert, wie ich auf sowas komme). Ich entscheide notgedrungen, eine ausführlichere Auszeit zu nehmen. Zum Schreiben zum Beispiel. Das
Gran Turkmen hätte sogar einen Outdoorpool, dessen Wasser überraschend kühl ist, doch sieht das Ding irgendwie zu irreal aus, um es tatsächlich zu benutzen.
Während der Säulenfreund in Ashgabat fraglos auf seine Kosten kommt, ist ein Besuch rein der schönen Kommunikationsmittel wegen nicht uneingeschränkt empfehlenswert. Zwar verfügt das
Gran Turkmen über Internet (keine Selbstverständlichkeit) und zögert auch nicht, sehr viel Devisen für die Nutzung zu fordern; dessen Funktionalität aber gestaltet sich höchst kapriziös. Daß die Verbindung elend langsam, erratisch schwankend und entzückend
old-school mit Stecker zustande kommt, kann als normal gelten, Turkmenistan hat nur einen Server. Bemerkenswerter ist, daß ich zwar am allerersten Abend noch problemlos Mails empfangen kann, dann aber für den Rest der Woche nie wieder. Meine eigenen Mails scheinen rauszugehen, ob sie irgendwo ankommen, bleibt ungeklärt. Ein Geschäftsmann aus dem Öl-Business, den ich im Computerraum kennenlerne, bezweifelt es. Die Mails werden alle gelesen, sagt er, was gleichfalls im (ziemlich angejahrten)
Lonely Planet steht. Allerdings erfahre ich, daß auch die ausländischen Geschäftsleute ausnahmslos nach dem
Lonely Planet navigieren, ist also ein in sich geschlossener Informationskreislauf. Einige Internetseiten lassen sich aufrufen, einige gar nicht. Ich werde in dieser Woche keinen einzigen Anruf oder eine SMS auf mein Handy erhalten, trotz Netzverbindung, und kann damit nicht telefonieren. Wer also in den Ferien nach tiefer Ruhe sucht, ziehe Turkmenistan als Destination ernsthaft in Erwägung. Wer hingegen einen Blog schreibt, legt erstmal Sendepause ein und bittet um Verständnis.