Alles käme hier auf Beziehungen an, erklärte sie mir, als wir gestern Abend unser Zugabteil bezogen, und hatte sofort über ihren Mann eine Connection zum Brigadier oder Brigadeur oder Briganten des Zuges, sprich dem Chefzugbegleiter klargemacht, der uns das Klappfenster aufschließt, damit wir rauchen können, und uns Kannen mit heißem Wasser für wahlweise Tee oder meinen Bohnenkaffee bringt. Habe letzteren im
Ympasch aufgestockt, kann einer weiteren Woche furchtlos und wohlkoffeiniert ins Auge sehen.
Wir haben das Abteil für uns allein.
Ayan Travel hat alle vier Kojen aufgekauft. Befremdlich, alldieweil draußen auf dem Gang eine ganze Schar Leute hockt und auf dem Fußboden schläft. Aber, um mit den Borg zu sprechen, Widerstand ist zwecklos, und so läßt sich’s immerhin rauchen. Der Raucherpolizei, die bisweilen den Gang patrouilliert, schieben wir einfach einen Riegel vor. So haben wir’s nett und anregend, schnacken, snacken, trinken Tee. Lena singt mir russische Lieder vor, sie hat eine schöne Stimme. Sie definiert sich als Russin, obgleich sie hier geboren ist, die meisten Russischstämmigen täten das, auch bei den Eheschließungen bleibe man tendenziell unter sich. Lena hat sogar beide Staatsangehörigkeiten, ihr Schengenvisum für die anstehende Deutschlandreise, das sie mir stolz präsentiert, prangt allerdings im turkmenischen Paß. Sowohl sie als auch ich reisen naturgemäß mit einem ganzen Aktenschrank voller Bewilligungen und Gestattungen für’s Reisen, für Grenznähe, etc., in jedem Hotel muß zudem mein Paß zur Registrierung. Nehme an, unter den vielen Sinnsprüchen Präsident Berdymuchamedovs, die überall buntbebildert plakatiert sind, nimmt „Sometimes suspicion is a sin“ einen nachrangigen Platz ein.
Nebenbei, diese Sprüche sind, wie ca. 80% des Geschriebenen im öffentlichen Raum, auf Turkmenisch, das sich lateinischer Buchstaben bedient. Turkmenisch dominiert und wird forciert, Lingua franca scheint trotzdem eher das Russische zu sein.
Ich nutze die im Zug vertändelte Zeit, mit Lenas Hilfe mein Russisch in Gang zu kriegen, ich habe sieben Tage Zeit, mich an all das zu erinnern, was ich in den letzten sieben Jahren vergessen habe. Für jemanden wie mich, der eine quasi zenbuddhistische Leere dort trägt, wo andere Menschen ein Gedächtnis haben, ein hoffnungsloses Unterfangen. Zwar schleppe ich mein Russischlehrbuch mit, bin aber bislang zu keinem Blick hinein gekommen. Die Blogschreiberei hinkt chronisch hinterher, ganz schlecht, wie gesagt, ich vergesse alles sofort. (Ich selbst übrigens hinke kaum noch, Bimsstein hilft, noch einen Tag und ich bin wieder der gute alte Springbock, als den man mich kennt.) Und zeitgleich versuche ich natürlich, mir zumindest halbwegs eine zumindest laienhafte Kenntnis der zentralasiatischen Geschichte zu erarbeiten.
Ebenso hochfaszinierend wie -komplex, von Aufstieg und Fall bzw. Zerfall der antiken Groß- und Kleinreiche, über das „Great Game“ zwischen Rußland und England, bis zu Unabhängigkeit, Gegenwart und zukünftiger Rolle der zentralasiatischen Staaten. Hier auch nur ansatzweise einen Abriß geben zu wollen, wäre vermessen. Meine Leseliste für daheim wächst stündlich, und schon die Iran betreffende ist zu lang.
Wobei ich zugegeben stets am meisten an der Gegenwart interessiert bin – ist schließlich auch Historie, man warte bloß bis morgen.
Lena kann mir viel erzählen und tut das auch ungeniert, inklusive der verbreiteten Scherze. Über das turkmenische Wappentier beispielsweise, den fünfköpfigen Adler, der seiner Vielköpfigkeit wegen nie eine Ahnung hätte, wohin er fliegen soll. Die Zahl Fünf spielt in der turkmenischen Symbolik eine große Rolle: Fünf Stämme, fünf Provinzen – auf der Flagge repräsentiert durch fünf Teppichmuster –, aber auch die fünf Säulen des Islam, die fünf Sinne. Die fünf großen uralten turkmenischen Werte, auf denen die gesamte Welt basiert, wie man’s im
Ruchnama nachlesen kann, dem sakrosankten Werk Turkmenbashys, das jeder Turkmene zumindest in Teilen auswendig können mußte (beispielsweise u. a. zur Führerscheinprüfung unerläßlich), und von dem ein Exemplar per Satellit im Orbit kreist. Zwei dieser Werte sind der Turkmenische Hund und das Turkmenische Pferd, die anderen drei habe ich vergessen, ich habe das Buch noch nicht durch. Die Monate hatte Turkmenbashy übrigens umbenannt, den, wie ich glaube, April nach seiner Mutter.
Es braucht 14 Stunden nach Turkmenbashy, wir schlafen mehr schlecht als recht, der Zug hält alle paar Meter, wie es scheint, und macht ein großes Aufheben davon. Morgens aber gibt’s dank Heißwasserkanne echten Kaffee, ich steh’ auf diesen Zug. Ist überhaupt ein sehr schöner Zug, sauber, neu, chinesisch, mit Teppichläufern ausgelegt. Der Brigadier oder Brigadeur schließt uns beiden das gute Klo mit Sitzkloschlüssel auf, das eigentlich nur für die Zugbegleiter gedacht ist; und irgendwann in der Nacht hat man gar die Klimaanlage ausgeschaltet, so daß Temperaturen herrschen, in denen menschliches Leben denkbar ist (die Klimaanlagen in chinesischen Zügen arbeiten für gewöhnlich stets auf Hochtouren an einer lebensnahen Weltraumsimulation, nach meiner Fahrt Pjöngjang-Peking war ich zwei Wochen krank).
Auf dem Rückweg übrigens geht mein Ich-verlasse-den-Erdboden-nicht-Konzept perdü: Der Zug, den wir eigentlich hätten nehmen wollen, wurde kurzfristig für eine kollektive Schulkinderlandverschickung requiriert. Es gibt keine andere Möglichkeit – wir werden fliegen müssen.
Zunächst aber kommen wir vormittags in Turkmenbashy an, kurz zuvor sehe ich durch’s Zugfenster zum ersten Mal das Kaspische Meer. Toll. Hier war ich auch noch nicht. Das Hotel ist gut, hat aber seine Zeit wohl gesehen, der Pool spricht davon, er befindet sich im Stadium der Metamorphose zu einem Gartenteich. Es ist zu stadtnah, das Hotel; die Zukunft wächst weiter draußen und trägt den Namen Awaza. Was man in Ashgabat als Stadtphantasma errichtet, wird dort in ähnlicher Konsequenz als Erholungsphantasma durchgespielt. Nach Awaza fährt man ein langes Stück an Raffinerien vorbei – es riecht nach Öl und Gas, hier nämlich wächst das ganze Zeug, und zwar in derartigen Mengen, daß weder Gas noch Strom den Bürger etwas kosten, und Autobesitzer, so Lena, bekämen sogar eine gewisse Menge Benzin geschenkt. Der Rest, nehme ich an, wird gegen weißen Marmor getauscht.
Die halluzinierenden Architekten, sagt Lena, seien im Übrigen gar keine Turkmenen, die Bauaufträge, Konzeption und Realisierung, lägen komplett in ausländischer Hand, bei Türken und Italienern. Die meisten – und qualifizierteren – der damit zusammenhängenden Jobs ebenfalls. Nicht so gut, in einem Land, dessen Arbeitslosenquote um und bei 25% geschätzt wird.
Auf die Raffinerien folgt Brache und Wüste. Die Straße hindurch ist breit, leer und gesäumt von ornamentalsten Straßenlampen in irrsinniger Strom-kost’-nix-Menge, daneben ein typischer tiefladerbreiter, schattenloser Gehweg. Am Horizont die wohlbekannten Phantasiatürme in Weiß, diesmal handelt es sich um Hotels. Dahinter vermute ich das Kaspische Meer. Davor und drumrum ließe sich prima das nächste Mad-Max-Sequel drehen. Man ziele auf den europäischen und amerikanischen Tourismusmarkt, sagt Lena, als ich frage, wie zum Henker sich diese gewaltigen Komplexe, von denen nahezu stündlich weitere emporsprießen (wie erdbebensicher all das ist, wird sich wohl erst im Feldversuch herausstellen), füllen sollen; und ich halte mal lieber nicht die Luft an, bis das erste Hotel von der TUI leergebucht wird.
Die Sonne sengt. Der Luftfeuchtigkeit wegen tut sie das noch fieser als in Ashgabat. Wer sich hier an den Strand legt, hat entweder einen Schaden oder holt sich einen innerhalb von zwanzig Minuten. Ich gehe trotzdem kurz baden, eigentlich hauptsächlich, weil Lena annimmt, ich sei deswegen hier, Freude an Abwesenheit von Attraktionen ist weltweit schwer vermittelbar. Stelle fest, mein Bikini hat sich nach einer Dekade treuen Dienstes aufgelöst, in der Hitze sind die eingenähten Elastikgummis geschmolzen und kleben mir nun fonduefädenziehend am Leibe. Ich bestatte ihn mit ein paar würdigen Worten im nächsten Abfalleimer, dann flüchten wir ins klimatisierte Hotelinnere.
Drinnen Gipsstuckopulenz in Weiß und Gold, sowie Lüster, die selbst dem Schah ein interessiertes Zucken der Augenbraue hätten abringen können. Wenn der slawische Geschmack auf den asiatischen Willen zum Dekor trifft, geht der Westeuropäer besser in Deckung. Schön jedoch das wandgroße Bild Präsident Berdymuchamedovs, von Geld umflattert. Normalerweise umflattern ihn weiße Tauben. Wir bestellen an der Bar echten, sprich türkischen Kaffee, dürfen rauchen, kühlen aus.
Später gehen wir, nach meiner Verweigerung einer Alsterdampferfahrt entlang eines künstlichen Kanals durch die Wastelands, in der Stadt, die früher Krasnovodsk hieß, „Rotes Wasser“, Schaschlik essen. Die Schaschlikerei sieht von außen so aus, daß ich 100 Manat (das hiesige Geld) drauf verwettet hätte, sie sei geschlossen. Ist sie nicht, sie ist bloß leer und hat, gut versteckt, einen netten Biergarten. Das Schaschlik ist fantastisch. Man schicke mal bitte die Iraner zum Würzenlernen vorbei. Dazu gibt’s Brot sowie eine hochraffinierte, tja, ich würde sagen: Chimäre aus Salat und Kräutermischung. Wir trinken etwas Bier, Lena etwas weniger, ich etwas mehr, und sind zwiefach angeschickert.
Verbringen lustigen Nachmittag im Basar bei völlig vergeblichem Versuch, mir einen neuen Bikini oder Badeanzug zu kaufen, zum Schluß hatte ich alle Badeanzüge Turkmenistans an und eine Menge Spaß. Die meisten Bikinis sind schriller als jedes turkmenische Hotelinterieur, und ausnahmslos sind sie, wie seit Iran fast jedes Kosumgut, aus China.
Abends wird die Hitze erträglich, nachts ist es angenehm warm, wenn man die Brise vom Meer her auskostet. Lena und ich essen an der Stadtpromenade auf einer Dachterrasse, wiederum Schaschlik, wiederum alles ebenso unprätentiös wie lecker. Wir unterhalten uns stundenlang und bedauern, daß sie nicht bis zum Ende der Tour wird mitkommen können. Für die Fahrt – per Auto – von Ashgabat über Mary und Merv bis zur Grenze hinter Turkmenabat bekomme ich eine neue Reiseführerin, wenn ich nach Usbekistan einreise, sitzt Lena schon im Flugzeug nach Deutschland.
Der Himmel ist pastellen, die Luft warm und substantiell wie Haut. Ich trinke kaltes Bier und sehe auf’s Meer hinaus. So also war das damals, am Kaspischen Meer, sage ich mir. Um es nicht zu vergessen.