Wir sind früh am Flughafen und müssen uns zum Rauchen ganz hinten auf dem weitläufigen Parkplatz verstecken – Flughafen, da gibt’s Kameras!
Wenngleich es schade ist um’s Konzept – der einstündige Flug ist insofern interessant, als daß Turkmenistan von oben sehenswert ist. Wüste. Ausschließlich. Fast. Jedes Grün der Wüste mühsam durch Bewässerung abgerungen. Die großen Baumwollfelder, deren Ausdehnung und Erträge in den Fünfzigern durch den Bau des Karakum-Kanals vervierfacht werden konnten, gehören zu den Dingen, die dem Aralsee das Genick brachen. Was für eine menschenfeindliche Natur, denke ich. Dementsprechend leer ist das Land, vier bis fünf Millionen Turkmenen soll es geben. Außer über Gas und Öl und Baumwolle verfügen sie über eine Menge Abwesenheit. Mir gefällt’s.
Am Ashgabater Flughafen warten Fahrer und künftige Reiseführerin: Tanya, blutjunge zweiundzwanzig. Wir werden zum Hotel gebracht, ich tausche Geld, dann haben Lena und ich noch eine
To-Do-Liste. Tanya will uns begleiten und holpert mehr schlecht als recht auf Absatzsandälchen hinter uns her, die Arme – Lena trägt, natürlich, wie ich Schwachmatensandalen. Die einzige und häßlichste Möglichkeit, sich angemessen flott durch die Welt bewegen zu können.
Wir bewegen uns zu einem Buchladen, wo ich ein drittes
Ruchnama-Exemplar erwerbe. Zwei habe ich bereits in Turkmenbashy gekauft, in der deutschen Übersetzung, es gibt sie in allen denkbaren Sprachen. Dem
Ruchnama sollen zwar gesundheitsfördernde Kräfte innewohnen, ich vermute aber, dies bezieht sich nicht auf die Bandscheiben, jedes Buch wiegt eineinhalb Kilo. Dementsprechend ist unser nächstes Ziel die Post, ich kann unmöglich viereinhalb Kilo
Ruchnama nach Shanghai schleppen. Leider hat die Post vor zwanzig Minuten dichtgemacht, die Mission wird auf morgen verschoben.
An dem Buchladen übrigens bin ich auf der Suche nach einem Buchladen bestimmt ein Dutzend Mal vorbeigelaufen. Genau wie bei der turkmenbashischen (wie eigentlich lautet das Adjektiv dazu?) Schaschlikerei ist von außen an gar nichts zu erkennen, daß drinnen irgend etwas lebt oder vorhanden ist.
Diesem Prinzip begegnen wir umgehend wieder. Hinter einer makel- und leblosen Fassade verbirgt sich ein modernes Einkaufszentrum, ebenfalls ohne jeglichen äußeren Hinweis auf seine Existenz. Wer hier einen Ort nicht kennt, wird ihn auch nicht kennenlernen. Keine hundert Meter vom Hotel gibt es ein Café mit Kaffee, das erfahre ich jetzt, nach quälenden Morgen, in denen mir der Nescafé bis zum Halse stand. Vielleicht ist die leere Stadt, als die ich Ashgabat erlebte, in Wirklichkeit ein Ort des Trubels – bloß daß es keine äußeren Anzeichen dafür gibt.
Ich lade die Girls zum Kaffee ein – bzw. Wasser, Tanya will nichts anderes –, dann gehen wir zum Hotel. Ach, Lena. Wieder so ein Abschied. Alles Gute und viel Spaß in Deutschland, genieß es und mach dir keine Schuldgefühle, weil deine Familie diese deine 400 Euro auch anderweitig hätte brauchen können, manchmal muß man sich Träume erfüllen, ich glaube schon, ein Leben nach rein rationalen Zweckmäßigkeiten ist gar keines. Sie ist eine fabelhafte Person. Tanya wurde von ihr erstmal ein bißchen eingenordet – sie soll sich vom Fahrer nicht auf der Nase herumtanzen lassen und gefälligst zusehen, daß ich ausreichend rauchen kann. Zu ihrem Geburtstag konnte ich Lena gottlob ein Nikotinpflaster für den Flug schenken, in Turkmenistan kann man die nämlich nicht kaufen. Eingedenk des zumindest öffentlichen Rauchverbotes würde ich sagen: Fies!
Abends, als das ausgiebige Warten auf irgendeine Internetverbindung mir eine Atempause verschafft, resümiere ich ein bißchen. Die letzten Tage waren hochinteressant, und die Begegnung mit Lena unvergeßlich, und trotzdem stimmt etwas nicht. Etwas ist ganz und gar falsch. Es ist, als bliebe dieses Land rein virtuell, und selbst dabei erreiche ich nicht mal das zweite Level. Ich reise nicht mehr, ich sehe zu. Das Land interagiert nicht mit mir, oder ich nicht mit ihm.
Das ist natürlich unter anderem der Reiseführerchose geschuldet – selbst ein noch so prima Mensch wie Lena ist dafür da, Probleme aus dem Weg zu räumen, und Probleme sind ja bekanntlich der Grund, weswegen man eigentlich reist (siehe: irgendwo ganz zu Anfang). Mir ist dieses Dilemma insofern neu, als daß ich zwar schon Reiseführer hatte, aber bloß dort, wo man aus dem einen oder anderen Grund alleine nicht hingelangt – Berggipfel, Dschungel, Kongo, Nordkorea. Überall da bleiben einem trotzdem noch ausreichend Probleme übrig. Hier aber, in einem Land, das man allein bereisen könnte, wenn man’s nur dürfte, hört dadurch das Reisen plötzlich auf und wird zu Transport, man selbst ein wertvolles Frachtgut, die Welt bewegte Bilder wie auf dem Flatscreen.
Ich merke an irrelevanten, irre- und heißlaufenden Gedankengängen: Ich habe eine Mikrodepression. Nicht wie in Maschhad durch unangenehmes Geschehen ausgelöst, sondern durch generelles
Nichtgeschehen. Abgefahren. Passiert normalerweise nicht auf Reisen – machen wir uns nichts vor, natürlich reisen wir auch des Adrenalinlevels wegen, der Endorphine und Serontonine und Noradrenaline, des ganzen Sackes voller geiler Neurotransmitter und Hormone.
Mit dieser Erkenntnis bin ich verbissen gewillt, dieser gottverdammten Stadt am letzten Abend auf Teufel komm raus ein wenig Interaktion abzuzwingen. Ich greife zum allerorts letzten aber verläßlichsten aller Strohhalme: Dem British Pub der Expats. Den gibt es überall, und die Interaktion läßt an Ausuferung selten zu wünschen übrig. Das ist manchmal hochspannend und manchmal steinöde, oft irgendwo dazwischen und trotz aller regionalen Unterschiede immer ähnlich bis zum Copy-Paste-Gefühl. Ist ja aber nicht so, als hätte ich irgendeine Wahl. Mit Hunger laufe ich zunächst die Straße hin und her, finde dank mittlerweile geschulterem Blick zwei Restaurants, beide sind leer. Dann gleich British Pub. Wo der ist, hat mir der Ölgeschäftsmann gezeigt, persönlich, denn naturgemäß gibt es draußen keinerlei Indiz für irgendein Geschehen hinter dieser Tür. Expat-Abend, warum nicht – gepflegt in Gesellschaft von Öltypen Bier trinken in heißer Nacht und mit Glück ein paar coole Ölinsiderstories abstauben, ich bin dafür zu haben.
Es ist 22:30. Eine fünfköpfige Band spielt sich lärmend die Seele aus dem Leib. An einigen Tischen sitzen russische Prostituierte. An zwei oder drei anderen gelangweilte Pärchen. An der Bar lungert keiner, im großen rückwärtigen Biergarten auch nicht.
Ashgabat soll sehen, wie es alleine klarkommt. Ich bekomme im Hotelrestaurant gerade noch ein paar uninspirierte Spaghettis, bevor um elf die Küche schließt.