Die Post. Ich verschicke zwei Pakete, einmal Hochzeitsgeschenk für Lieblingsreisemenschen Schneider, einmal Nursogeschenk für Freundin Kibermanis. Lesen beide mit, ist die Überraschung hiermit perdü. ‘Tschuldigung. Aber zur Sache: Großartig! Unglaublich! That’s Enterntainment! Der ganze Spaß wird mich zwar vierzig Euro kosten, ist aber jeden Cent wert. Ich bekomme dafür eineinhalb Stunden hochklassige Performance, mit ausreichend Eigenbeteiligung. Denn Postverschicken geht so:
Lena hat mich instruiert, Paketpacken sei zwecklos, die Pakete würden von der Post selbst gepackt. Tanya hat noch nie ein Paket verschickt, kann der Erfahrung also ebenso jungfräulich entgegentreten wie ich. Wir beginnen mit dem Ausfüllen von je fünf Formularen pro Paket, alles darunter hätte mich tief enttäuscht. Schön ist, daß die Formulare grad mal Din-A5-Größe haben, man also in winzige Kästchen, die eigentlich bloß zum Ankreuzen taugten, ellenlange Adressen quetschen muß. Ich hab’ in Kiew mal einen Floh gesehen, dem ein Miniaturistenkünstler goldene Hufeisen angenagelt hatte, kein Scheiß. Den bräuchten wir jetzt hier. Also, den Miniaturistiker, nicht den Floh. Insbesondere, weil, ganz besonders schön, wir Tanyas Adresse als Absenderadresse angeben, und Tanyas Nachname ist so lang wie der Karakum-Kanal (1.100 km, falls
Lonely Planet nicht lügt).
Alles schon mal recht apart, vor allem für die Frau, die vorhin wieder bloß Instantkaffee hatte. War aber nur das Präludium, richtig symphonisch wird’s erst, als wir die Inhalte der künftigen Pakete, in Tüten zusammengefaßt, an die zwei Paketannahmedamen geben. Zunächst heißt es: Keine Keksverschickung aus Turkmenistan. Nun gut, ‘tschuldigung Kibermanis, Kekse gibt’s dann erst im November. Ich wünschte, ich könnte den dementsprechenden Keksparagraphen aus dem turkmenischen Postgesetzbuch als Souvenir bekommen.
Dann aber: Wird das Geraffel – meines ist übersichtlich, aber vor uns am Schalter schickt eine Mutter an ihr offensichtlich auswärtig studierendes Kind einen Riesensack mit Konservendosen, Gebäck (sie muß ein Schlupfloch im Keksgesetz gefunden haben), Socken, Deodorant und zwanzig weiteren variantenreichen Kilos – in hellbeige Leinensäcke verpackt. Leinensäcke. Zentnervoluminöse oder Diplomatendepeschenkleine, je nachdem. Und dann: WERDEN DIE SÄCKE PER HAND VERNÄHT. Vernäht. Mit Nadel und Faden. Von einer der Paketschalterfrauen. So richtig echt vernäht. Wie cool ist das denn. Ich bin total perplex. Das glaubt mir kein Schwein, und natürlich gibt es kein Foto, denn auch das fuffzig Quadratmeter große Hauptpostamt Ashgabats ist logischerweise im Kriegsfalle Primärtarget.
Als ich vor Begeisterung schon völlig schwächlich bin, jagt ein weiterer Höhepunkt die Näherei: Die vernähten Säckchen werden VERSIEGELT. Mit SIEGELLACK. Großen Batzen ECHTEN SIEGELLACKS. Meine Päckchen im gut Din-A4-Umfang erhalten drei Siegel auf ihre Naht, der Sack der Mutter mehr, als Sterne am Firmament stehen. Siegellack. Ich dachte, der wäre ausgestorbener als der Dodo.
Mit letzter Kraft schreibe ich alle Adressen noch mal auf die zwei Leinensäckchen. Dann brauche ich dringend einen Ort, wo ich unentdeckt rauchen kann. Die herrliche Zigarette danach. Allein all diese Großbuchstaben, das erschöpft.
Sechs Stunden fahren wir hinaus nach Mary, durch Wüste oder Wüstenähnliches. Die Straße wird immer rumpliger, es ist das einzige, was einen wachhält. Und die Kontrollstationen der Polizei, die am Straßenrand blühen und gedeihen, mal werden auch wir rausgewinkt zur Papierekontrolle. Too much suspicion, ihr wißt schon.
Die Autos übrigens sind zu ca. 80% neu und gut in Schuß – es soll ein Gesetz wider schmutzige Autos geben. Toyota dominiert, Nissan folgt, auf Platz Drei liegt Opel; Mann, was fahren hier Opels herum.
Ein Zwischenstop an schwerantiken Lehmmauerresten, die ich zu faul und zeitknapp war, selbst zu recherchieren. Tanya weiß natürlich alles, hat aber folgendes Problem: Angst. Panik. Mit hysterischen Tendenzen. Sie ist absolut sweet, aber leider fatal aufgeregt, ich bin ihr allerallererster Tourist, sie selbst ist zwar zum Studieren im Ausland gewesen – Washington State, Bischkent, Bulgarien – aber nie als Reisende, hat also auch noch nie einen Touristenführer in natura erlebt. Daß ich ihr ununterbrochen zuspreche wie einem verängstigten Welpen, hilft gar nichts, sie hyperventiliert, kann sich an keine einzige der auswendiggelernten Jahreszahlen erinnern (es hilft genausowenig, daß ich ihr sage, ich sei an Jahreszahlen gar nicht interessiert, da ich die wegen Gedächtnismangel eh nicht behielte), und vergißt vor lauter Angst gar, daß sie eigentlich total gutes Englisch spricht (das Schüleraustauschjahr mit fünfzehn in Washington State).
Es ist herzzerreißend. Das arme Kind. Ich leide mit ihr. Außerdem leide ich selbst. Nach und nach kitzele ich aus ihr heraus, daß sie offensichtlich einer Tourismusschulung im guten alten Stalinistengroove teilhaftig wurde – man brachte ihr bei, keinesfalls zu gestikulieren (diese Maxime beginnt gerade in ihrer ganzen Sinnhaftigkeit mit dem Bostoner Rauchverbot 50 Meter um Ladezonen zu flirten, lassen wir die zwei Hübschen alleine, ich denke, da geht noch was), und niemals mit dem Touristen zu Abend zu essen. Letzteres finde ich heraus, als sie mich abends trotzdem fragt, ob wir zusammen was essen gehen wollten, oder ob diese Frage eine aufdringliche Zumutung darstellte.
Natürlich will ich sehr gern mit ihr essen gehen, wir werden auf Lenas Anraten hervorragendes Lammschaschlik essen, beziehungsweise ich werde das essen, Tanya traut sich nicht, weil Lamm ja ganz ekelhaft sein könne – ohja, kann es, ich bezeuge es –, dies aber ist ein Ereignis, sie verpaßt was.
Zunächst jedoch ist die Chose unendlich zäh – den Tag mit einem Menschen zu verbringen, der sich die ganze Zeit mit aller Kraft bemüht so zu tun, als wäre er keiner, zermürbt noch den verständnisvollsten Beobachter. Keine Gesten, ich glaub, es hackt. Bis abends verheddert sich Tanya erbärmlich in einer Sprache, die sie spricht, in Fakten, die sie kennt, und das einzige, was noch herauskommt, sind permanente unnötige Entschuldigungen. Ich kann mit keinerlei Erklärung meinerseits, wie schnuppe mir letztendlich Fakten seien, die ich jederzeit bei Bedarf von Wikipedia bekommen könnte, dem Elend Einhalt gebieten. Und zwischendrin tanzt ihr, wie von Lena prognostiziert, zu allem Überfluß der Fahrer auf der Nase rum.
Es ist fast sechs, als wir das Hotel in Mary erreichen, gegen acht wird es dunkel, wir müßen hastig raus nach Merv, dessen Besichtigung heute noch ansteht, damit ich morgen zeitig genug an der Grenze bin. Ich würde mir ja eigentlich lieber die Stadt angucken. Eine lebendige Stadt. Gespickt mit tollen Propagandaschildmalereien, kleineren Ausgaben der Ashgabater Irrsinnsarchitektur, einem goldenen Präsidenten, der gegenüber des Springbrunnens im Zentralpark vor einem Teppichhintergrund sitzt, sowie lebendigen Menschen. Es gibt auch eine große Moschee – davor eine Propagandaschildmalerei mit betendem Präsidenten unter Pelzmütze –, interessant, denn obwohl das offizielle Statement einen islamischen Staat behauptet, wirkt fast alles, was ich von diesem Land sehe, ziemlich russisch. Die alten Stadtviertel nördlich des
Gran Turkmen in Ashgabat erinnern mich an Städte Sibiriens, und gefallen mir übrigens gut – ein- bis dreistöckige alte Häuser, von üppigen Bäumen verborgen, dort gibt’s dann auch mal einen Kiosk an der Straße. Soll aber alles plattgemacht werden und in weißem Marmor reinkarnieren.
Nur kann ich die Stadt mir natürlich nicht ansehen, ich muß ja nach Merv. Widerstand ist zwecklos. Merv, seit Alexander dem Großen eine Metropole, die zu ihrer Glanzzeit vor tausend Jahren eines der wichtigsten Zentren der islamischen Welt und der Seidenstraße darstellte. Am Hotel holt uns Mervführer Viktor ab, zur überwältigenden Erleichterung Tanyas, ein sympathischer Russe mit reingoldenen Vorderzähnen, wie hier überhaupt endemisch. Ich habe eine Schwäche für die Russen. Allein die Sprache ist wunderschön. Sie sind nicht unanstrengend, aber Herrgott, bin ich ja auch nicht.
Bevor es, da ich mich ja der Grenze unwiderruflich nähere, vollends in Vergessenheit gerät, hier eine Beobachtung, die bislang so kontextlos im Raume hängen blieb, daß dies möglicherweise ihre letzte Chance ist: Goldgebiß trägt man geschlechterübergreifend, die turkmenischen Frauen aber tragen zudem hübsche Tracht. Bodenlange buntgemusterte Kleider, figurbetont, dazu ein Wickelturbankopftuch, das wiederum den Hinterkopf optisch stark verlängert. Die meisten haben sehr lange Haare, hat Lena erzählt, und als Schuluniform ist für die Mädchen Turkmenenkäppi mit Flechtezöpfen Pflicht. Wer nicht genug Haar für die Zöpfe hat, kann Käppis kaufen mit Zöpfen schon dran, und muß das auch tun. Habe ich nicht gesehen, kann ich nur kolportieren. Ist aber so schön, muß einfach wahr sein.
Achja: Auch keine Fotos. Zwar steht nicht vor jeder Turkmenin ein Polizist oder Soldat, jedoch bringe ich es nicht fertig, wildfremde Menschen anzusprechen: Entschuldigung, Sie sind in meinen Augen so pittoresk, darf ich das mal fotografieren? Wer dergleichen mit mir in Hamburg versuchte, verlöre Vorderzähne, gold oder nicht.
Merv. Die Sonne steht tief und wirft goldenes Licht. Viel ist nicht zu sehen, trotzdem erstaunlich, was die Jahrhunderte von Lehmziegelbauten übriggelassen haben. Das Terrain ist weitläufig, Jungs treiben ihre Kamel-, Rinder-, Schafsherden darin herum. Mal erheben sich Überreste der alten Festung wie etwas, das eher wie eine geologische als eine menschliche Laune wirkt, mal ist eine alte Zisterne zu sehen, bei der nur die Kuppel der Restaurierung bedurfte. Es wäre schön, darin herumzustreifen, hätte nicht Viktor dieselbe Touristnik-Akademie wie Tanya besucht; er läßt mich keinen Moment unbeschäftigt, nutzt zu meiner Unterweisung einen dicken Leitzordner mit Kopien, Fotos, Texten Grafiken – sowie bezaubernden Bleistiftzeichnungen eines Freundes, die ich viel faszinierender finde als alle Diagramme und Ruinen. Leider ist auch er zu gestreßt, als daß er versehentlich Mensch würde. Und zum eigentlichen Ruinenangucken gewährt er mir selten mehr als fünf Minuten.
Tanya muß übrigens den gleichen Touristenmaterialenkurslehrer gehabt haben – frühmorgens schon setzte sie mich davon in Kenntnis, sie habe mir einen Bildband über turkmenische Juwelen und einen über Teppiche mitgebracht. Bloß, lese ich im Auto auch nur die Aufschrift einer Cola-Dose, wird mir umgehend schlecht, ich kann’s nicht ändern und muß mitansehen, wie sich Tanya selbst ein
Ungenügend in Touristenmaterialbefriedigung gibt.
Merv hat eine unglaubliche Historie, nur ist nicht mehr viel davon da. Ich merke auf, als in einem alten Heiligtum, von einem blinden Greis bewohnt und bewacht, Tanya mir sagt, dies sei Viktors Lieblingsort. Mich würde interessieren warum, aber so persönlich werden wir nicht. Im Hof steht ein Wunschbaum, an den mit jedem Wunsch ein Stück bunten Stoffes geknotet wird, bei Kinderwunsch sogar elaboriert gebastelte Miniwiegen, auch das finde ich interessant, ich kenne sowas nur aus stark animistischen Kulturen, in der Mongolei sah ich Ähnliches, hier steht es im Hof eines muslimischen Heiligtums. Drumherum ein Friedhof, in dem Muslime, Christen, Juden, Kasachen jeweils ihr eigenes Viertel haben. Auch danach hätte ich Viktor gern gefragt, er aber muß seine Diagramme abarbeiten, ich möchte ihn dabei nicht stören. Ich seh’s als Gratisrussischstunde – er spricht in übersichtlichen Happen, damit Tanya übersetzen kann, was in dieser Übersichtlichkeit kaum mehr notwendig ist –, sowie als Ermahnung daran, mir stets brav die Zähne zu putzen.
Dann ist Feierabend. Viktor flitzt davon, er hat anscheinend trotz später Stunde immer noch Touristen; unser Fahrer, dessen Namen ich wegen Komplexität vergaß, trifft sich mit Freunden. Tanya und ich essen Schaschlik, endlich entspannt sie ein bißchen und trinkt Tee. Ich trinke endlich mal ein turkmenisches Bier, bislang gab’s nur russisches. Sie sei ein Stadtpflänzchen, gibt Tanya schließlich zu, vom Grüntee beschwingt, und sie sei keine
trouble person, nie gewesen. Sie sei ja auch nie selbst gereist. Sie findet mich irrsinnig mutig. Und ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich wünsche ihr wahrlich alles Gute, aber ob sie mit ihrer Berufswahl richtig beraten ist, ich weiß es nicht. Ich höre den Ausdruck
trouble person aus ihrem Mund das erste Mal, weiß aber als
trouble person naturgemäß sofort, was gemeint ist. Lena erginge es nicht anders, wie Badma und Tseye in der Mongolei; Jonas und Flintstone in Papua; Henning und Paul in Benin; Elena und Valentin aus Kamtschatka; Christian in Grönland; Rob, Rod, Bob und Don (sie hießen wirklich so!) auf der Antarctic Circumnavigation; Käpt’n Wolf und Jochen von der Santa Maria Australis. Die superbsten Reisemenschen, die ich kennenlernen durfte. Wie man als Nichttroubleperson reisen kann, wird für uns
trouble persons nie ergründlich sein können.
Ich trinke das Bier aus und beginne schon jetzt, mich innerlich von Tanya zu verabschieden, wir tauschen noch Volksaberglauben, die größtenteils von Deutschen und Russen geteilt werden (schwarze Katzen, Leitern, Schornsteinfeger, verschüttetes Salz, Auf-Holz-Klopfen), nur haben die Russen Hausgeister, die unsereins nicht kennt. Wollen wir Tanya viel Glück wünschen und vor allem viel Spaß, und hoffen, daß das Konzept des Spaßes an der Tourismusakademie wenigstens angerissen wurde.
Bin ich eine trouble person? Bestimmt. Reise ich? Ich fliege ab und zu in der Weltgeschichte rum - fliegen jetzt nicht mit dem Jet gemeint.
Jedenfalls - ich bin schon gespannt auf den naechsten Teil. (und hoer auf zu rauchen, einen besseren Gefallen kannste Dir nicht tun - lautet der ungefragte Ratschlag, ich habs uebrigens vor 20 Jahren geschafft aufzuhoeren)
hier läuft alles gut und unser Chinese kann vielleicht nun doch kommen. Spannend, aber nicht sooo spannend wie Deine Reise. Danke Dir für die wunderbaren Zeilen, fahr irgendwie mit Dir.
Bis bald bei Harbour Front
Peter
mannomann, wat freu ick mir uff das Siegellackpäckchen! Du Gute! Scheiß auf die Überraschung, die Freude überwiegt! Mit Glück ist es Weihnachten da & wird dann zusammen mit gut abgehangenen turkmenischen Keksen goutiert.
Und auch sonst habe ich mich beim Lesen bereits ans Mobiliar gekettet & den Schlüssel dem Mops gefüttert, damit ich nicht sofort losreise, um Ashgabat & all die anderen wunderbaren Bizarritäten zu sichten - eine grosse Freude, von dir zu lesen! Vor allem, wenn man sich gerade auf des Teutonen liebster Insel befindet & das höchste Kulturgut aus LED-blinkenden Pimmelshirts besteht...
Es reist in Gedanken & im Herzen mit:
Frau K.