Buchara ist ein Kopfsprung in die Vergangenheit. Der historische Stadtkern scheint sich seit tausend Jahren nicht verändert zu haben. Normalerweise bin ich kein Freund von Sperenzchen, hier aber verordnete ich, wäre ich der Chef vons Ganze, per Dekret das Tragen historisierender Kostüme. Dann noch großzügig eine Handvoll Esel und Kamele drübergesprenkelt, fertig ist die Zeitreiselaube.
Des Bauchgrimmens wegens traue ich mich erst mittags aus dem Hotel. Beziehungsweise aus dem Badezimmer. Stadtspaßintensivierung für Fortgeschrittene: Trotz verkorkstem Gedärm auf Streifzug gehen und gucken, ob, wie und wo sich im Notfall innerhalb von fünfzehn Sekunden eine Toilette auftreiben lassen wird, ein astreiner Nervenkitzel, vergleichbar mit Roulette, und zwar mit russischem.
Es läuft gottlob aber glimpflich. In einem Laden am Lyabi Hauz finde ich Zwieback. War auf der Suche nach Salzcrackern, unverzichtbare eiserne Reserve im Reisegepäck, nicht nur exzellent zum Magenkurieren bei gleichzeitiger Salzzufuhr, sondern zudem in der Lage, jederzeit als nahezu vollwertige Mahlzeit einzuspringen, besonders mit Dosenthunfisch oder
La vache qui rit-Käseecken. Bislang hielt ich Salzcracker für global ebenso ubiquitär wie die berühmten Plastikstapelstühle, erweist sich aber gerade als Irrtum. Wie schon der Turkmene präferiert auch der Usbeke den Süßkeks. Fuderweise Süßkekse stapeln sich in jedem Lädchen, der Salzcracker ist unbekannt. Dafür gibt’s erstaunlicherweise überall Wasser mit Kohlensäure, was meiner bisherigen Erfahrung nach weltweit als eine eher hochexotische Flause gilt. Man lernt nie aus.
Zwiebackbewehrt erkunde ich die Stadt und bin hingerissen. Die Sonne durchglüht die Gassen und Plätze, ein tiefblauer Himmel kontrastiert mit den hellen Erdfarben der Lehmziegelbauten. Stille Gäßchen münden auf Plätze, an denen alte Moscheen und Medressen mit gewaltigen Portalen in den Himmel streben. Ihre Fassaden, erdbeige mit blauen Keramikmosaiken, spiegeln die Farben der Stadt. Zwischen den Gebäuden steht die unglaubliche Hitze, als wäre sie selbst ein Stück Architektur.
Nebenbei – dies ist die perfekte Reisezeit für Zentralasien, viel zu heiß, die Unmengen an Seidenstraßentouristen werden erst in frühestens vier Wochen in die Städte zu strömen beginnen. Ab Mitte September sei sein Hotel ausgebucht, erzählt mir der freundliche Besitzer, dessen derzeit einziger Gast ich bin. Obgleich die Stadt ein großes touristischen Freilichtmuseum ist, finde ich sehr viel Menschenleere, die ich mit meiner Fantasie bevölkern kann. Manchmal muß ich eine Viertelstunde warten, bis ein Tourist für meine Fotos auftaucht – ich brauche stets einen im Vordergrund, sonst glaubt mir die Dimensionen kein Mensch.
Zum ersten Mal empfinde ich Seidenstraßenfieber. Es ist ja gar nicht so, daß ich mir dringend die Seidenstraßenattraktionen ansehen wollte. Ich wollte bloß nach China. Und so landete ich auf der Seidenstraße, mit ziemlicher Präzision, denn nichts anderes ist schließlich die Seidenstraße: Der Weg von Europa nach China. Immer noch, immer gewesen.
Ich finde es cool, nicht deswegen hier zu sein, weil ich die Sehenswürdigkeiten angepeilt hätte, sondern aus demselben Grund, der alle Seidenstraßenreisenden antrieb – nach China zu wollen. Ich fühle mich der Seidenstraßenthematik deswegen irgendwie viel, ich weiß nicht,
zugehöriger. Öfter mal werde ich übrigens gefragt, ob ich mich für die Inkarnation Marco Polos hielte. Ich werde euch Spaghetti mitbringen.
Eine Frage, die beim Betrachten meiner inneren Weltkarte wiederholt auftaucht ist die, warum man eigentlich Europa und Asien als zwei verschiedene Kontinente definiert hat. Es leuchtet optisch irgendwie nicht ein. Australien und die Antarktis sind mustergültige Kontinente, klar, und die Abgrenzung Afrikas ist deutlich; ich finde es auch unsinnig, Amerika als einen, nicht als zwei Kontinente zu sehen, muß man doch bloß dran zupfen, dann bricht’s an der Sollbruchstelle Mittelamerika entzwei. Daß sich in der eurasischen Landmasse aber Europa in irgendeiner erkennbaren Kontinentalhaftigkeit von Asien trennt, ist doch an den Haaren herbeigezogen.
Ich durchstreife die Stadt, die heutige wie die von vor fünfhundert, vor tausend Jahren. In Buchara geht das. Nun gut, irgendwo muß man dann wieder eine Strecke knietief durch Kunsthandwerk waten, das ist halt der Preis, den man für’s Erleben von Weltkulturerbe immer zahlt. Wäre ich Chef vons Ganze, würde ich zumindest ein Zehntel der Kunsthandwerker lieber mit der Herstellung von öffentlichen Abfalleimern beschäftigen, damit wäre allen gedient.
Die Hitze ist außergewöhnlich. Sie ist eine Sehenswürdigkeit für sich. Ich mag die aus der Zeit gefallenen kleinen Gassen mit ihren Lehmbauten und winzigen Holztüren ebenso wie die ehrfurchteinflößenden Monumente. Man kann die Vergangenheit der Stadt sehen, hält man nur einen Augenblick inne, erscheinen auf den sonnengeschmirgelten Plätzen Gestalten mit Turbanen und kostbaren Gewändern, staubige Karawanenreisende, Lumpenpack, Eselskarren. Lauscht man, hört man das Echo ihrer Stimmen über die Jahrhunderte hinweg. Selten bin ich an einem Ort gewesen, wo die Schleier der Zeiten so dünn sind.
Ich treibe mich rum, wehre freundlich die freundlichen Kunsthandwerker ab, meine Landweg-nach-China-Minimalgepäck-Geschichte zieht hier nicht mehr so richtig, man findet, dieser eine Schal, jener Spazierstock, die handgeschnitzte Puppe und das Keramikservice, der Krumsäbel oder der klitzekleine Sechzehnquadratmeterkelim trügen doch nun wirklich nicht auf.
Meine gestrige Quengligkeit mit Tendenz zur Panik ist verflogen, ist natürlich Quatsch, einem verpaßten Sightseeingtag hinterherzuheulen, denn das eigentliche Reiseerlebnis ist ja gerade dieses: Wie ich mal eine heiße Nacht lang in Buchara mit Ingrimm und Bauchgrimm, mit Bier und Furor stundenlang gegen meine Pflichtnichterfüllungspanik anschrieb. Reisen ist schließlich: Da sein. Nicht: Hinsehen.
Apropos Bauchgrimm – ist machbar. Ab und zu setzen mich zwar biestige Magenkrämpfe für zehn Minuten außer Gefecht, aber solange ich nicht das Toilettenroulette spielen muß, ist das ein echtes Minderproblem.
Zwischen fünf und sechs pausiere ich im Hotel, dusche, erreiche mit Hoteliershilfe eine Frau in Taschkent, die mir mehr Zugtickets in Turkistan verspricht.. Ich warte auf die Abendsonne, denn dann mache ich die ganzen verdammten zweihundert Fotos noch mal mit richtigem Licht, ha.
Eine weise Entscheidung. Nicht der Fotos, sondern des Lichtes wegen. Die Stadt wandelt sich in einer eindrucksvollen Metamorphose. Die Lehmziegelwände, mittags von der Farbigkeit in der Wüste gebleichter Knochen, beginnen in der Abendsonne golden zu glühen. Dann, als mit der Dämmerung alles in Pastelltöne fällt, gewinnen die massiven Gebäude eine ätherische Leichtigkeit, als schwebten sie oder träumte man nur von ihnen. In den Fassaden blitzen Goldornamente im allerletzten Sonnenstrahl auf wie Glut in einem erlöschenden Kamin.
Gleichzeitig beginnt die Stadt, munter zu werden. Die Plätze füllen sich mit Menschen, tobenden Kindern, skatebordfahrenden Jungs, die älteren Medressenschüler spielen Fußball, die Erwachsenen flanieren oder hocken auf den Türschwellen in den Gassen zum Klönschnack beisammen.
Alle Kinder behalloen jeden einzelnen Touristen, und dann fragen sie nach „Bonbon“. Wäre auch ’ne Erklärung für die vielen Goldzähne.
Das große Problem bei zuviel Kunsthandwerkern übrigens ist, daß es nirgends mehr was Sinnvolles und Brauchbares zu kaufen gibt. Ist eine Stadt erstmal derart stark von Kunsthandwerk befallen, ist menschliches Leben nur noch sehr eingeschränkt möglich.
Ich wandere zum Lyabi Hauz zurück. Die Magenkrämpfe werden schlimmer, ich finde das überzogen nach einem Tag Zwieback, und langsam zehrt’s denn doch an mir. Ich müßte irgendwas mit Nährwert gegessen kriegen, bloß wie das gehen soll, ist noch unerforscht. Irgendwas killerscharfes Ostasiatisches, das einem den Magen einfach ausbrennt, wäre eine Maßnahme, eine drastische zwar, kann aber funktionieren. Kann natürlich auch buchstäblich in die Hose gehen. Nur ist die Überlegung rein theoretisch, hier habe ich die Wahl höchstens zwischen Schaschlik und keinem Schaschlik.
Ich versuche, auf der Dachterrasse eines Hotels eine Suppe zu bestellen, vegetarisch sei die, sagt man mir, und ich finde heraus, vegetarisch heißt hier, sie besteht bloß zur Hälfte aus Tieren. Nun schätze ich eigentlich meine Nahrung tierhaltig, argwöhne aber, mein Magen begänne schon beim Gedanken an Fett vollends zu desertieren. Zweiter Versuch unten am Lyabi Hauz, ich bin mißtrauisch, schließlich war’s hier, daß man mich zu vergiften versuchte, und ich kann bei sowas mächtig nachtragend sein.
Ich esse in größtmöglicher Entfernung zu der vorgestrigen Location eine Kohlsuppe und hoffe, das wird kein Fehler sein. Man wird sehen. Um mich herum tobt das abendliche Leben, es wird geschmaust, getrunken, gelacht, daß die Goldzähne blitzen. Gottlob komme ich heute um Geselligkeit herum, ich empfinde eine gesteigerte Schonungsbedürftigkeit und schere mich nach meinem Süppchen schnellstmöglich ins Bett. ETA Taxi zum Bahnhof morgen sieben Uhr früh, es muß jetzt schnell noch sechs Stunden geschont werden, auf daß mein Magen und ich morgen heiter Hand in Hand Samarkand erkunden können.