Aber, nunja. Ich würde sagen, ließe man die beiden gegeneinander antreten, liefe es für Samarkand ähnlich wie für England gegen Deutschland. Man verstehe mich nicht falsch, es gibt unglaubliche und unglaublich schöne Bauwerke zu sehen, die mich zutiefst beeindrucken – aber eben nicht bezaubern. Der Registan, das Guri Amir Mausoleum, die Bibi-Khanym-Moschee, Shah-i-Zinda, sie ragen als Inseln aus einer modernen Stadt, museale Relikte einer Vergangenheit, zu der das Band zerrissen ist. Überall zahlt man Eintritt, Foto kostet extra – was mich gewiß nicht stört, sowas zu hegen, zu pflegen, zu bewahren kostet Geld, ich würde auch freiwillig spenden. Nur verschärft es das Musealgefühl. Wäre alles trotzdem toll – käme man nicht gerade aus Buchara.
Die Samarkander Kunsthandwerker übrigens würde ich, wäre ich Chef vons Ganze, zu hundert Prozent in die Herstellung öffentlicher Abfalleimer abkommandieren, und wer nicht spurt, der kriegt die allzu emsig webenden kleinen Fingerchen gebrochen. (Nebenbei, die meinerseits beklagte Abwesenheit von Abfalleimern resultiert nicht in öffentlicher Verschmutzung, ganz im Gegenteil, alles ist derart sauber und geleckt, wie es sich für einen ordentlichen autoritären Staat gehört. Man mag noch nicht mal eine Zigarettenkippe in den Rinnstein werfen und tut es auch nicht. Für den Touristen aber stellt sich damit das Problem: Wohin mit den Dutzenden leerer Wasserflaschen?)
Zurück zum Kunsthandwerk. Sie sind überall. Der Registankomplex besteht aus drei großen Medressen (Koranschulen, keine außerehelichen Freundinnen), was bedeutet, daß die Innenhöfe umringt sind von vielen kleinen Zellen, ein antikes Studentenwohnheim. In jede dieser Kammern haben sich Kunsthandwerker eingenistet wie Einsiedlerkrebse. Und auch vor den Mausoleen schrecken sie nicht zurück. Sie sind überall. Ihre Zahl ist Legion. Und sie singen den Gesang der Nervensäge. In einer derartigen Lautstärke, es macht mir schlechte Laune, und das ist gar nicht so leicht.
Es läßt sich keine Minute konzentriert staunen ob all der historischen Grandezza. Visit my shop, Madam; visit my shop, Madam. Den ersten Zweihundert bringe ich noch die relaxte Freundlichkeit aus Buchara entgegen – ich habe eigentlich tiefes Verständnis, ich möchte auch nicht schreiend gerne mir in solchen Ländern mit solchen Jobs meinen Lebensunterhalt und den für meine Familie verdienen müssen. Bei den nächsten Zweihundert aber erlahmt mein Enthusiasmus ein wenig. Ihrer nicht. Visit my shop, Madam! Sie lassen nicht locker. Ein freundliches „Nein danke“ hilft nicht, ein unfreundliches genauso wenig. Eine rennt mir minutenlang bis in den Basar hinein nach, ich werde sie, ungelogen, erst durch antäuschen, Haken schlagen, davonpreschen los. Es ist für beide Seiten unendlich entwürdigend.
Ein Verweilen im Registan oder Guri Amir ist unmöglich, ich bin gezwungen, die Flucht zu ergreifen – die achthundertste Visitmyshopmadam-Madam hätte selbst Gandhi erdrosselt.
Vom Registan zur Bibi-Khanym-Moschee führt der Weg durch eine deprimierend scheußliche Shoppingmallzeile. Verkauft wird, Überraschung, Kunsthandwerk. Irgendein Nutzgut gibt es dementsprechend auch in dieser Stadt nicht mehr, sowas vollends Abwegiges wie einen Stadtplan zum Beispiel. Was schon okay ist, schließlich ist die zweitschönste Art, eine Stadt kennenzulernen, das hoffnungslose Verirren.
Bibi-Khanym präsentiert sich ebenfalls gestopft voll mit Einzelhandel. Da ist mir der Basar nebenan sympathischer, da weiß man wenigstens, woran man ist. Ich nehme von dort den anstrengenderen Weg, einen Berg hinauf, und treffe damit die richtige Entscheidung. Zum einen werde ich Shah-i-Zinda von oben betreten, wo’s keinen Eintritt kostet. Zum anderen bin ich plötzlich allein auf weiter Flur und finde, was mir von Samarkand wohl am Eindrucksvollsten in Erinnerung bleiben wird.
Ein Friedhof erstreckt sich auf der Hügelkuppe. Aus der hartgebrannten Erde strecken sich Grabmale empor, deren Marmorstelen eingravierte Zeichnungen tragen mit den Gesichtern der Toten. Ich habe sowas noch nicht gesehen. Natürlich, man kennt die Grabsteine mit Fotomedaillons, meist eher unvorteilhafte Schnapsschüsse. Ich kenne auch die überkandidelten Grabmale des Moskauer Friedhofs. Etwas so Schönes aber sah ich noch nicht.
Ich finde es unendlich anrührend, daß die Toten hier ihre Gesichter behalten dürfen. Die Zeichnungen sind voller Würde, die einem Foto abgeht, und es wohnt ihnen unvergleichlich mehr Leben und Seele inne. Der Ort ist ruhig, fast leer, ein paar Gestalten zu Besuch bei ihren Angehörigen verlieren sich im Gräbergewirr. Das Gras versengt von der Hitze, auch der leichte Wind hier oben ist heiß. Von der Stadt weiter unten hört man kaum. Ich wandere zwischen den Gräbern, Tote sehen mich an und mir zu, alte Frauen mit Kopftuch, pausbäckige Kinder, verschmitzte Herren mit Zigarrette und Anzug. Sie sagen: Ich war ein Mensch, nicht bloß zwei Jahreszahlen. Es ist mir fast so peinlich, von ihren Gräbern ein paar Fotos zu machen, wie es mir bei lebenden Menschen immer ist.
Vom zeitgenössischen Friedhof gelangt man hinunter in den historischen: Shah-i-Zinda. Eine Allee alter Mausoleen, deren erste auf Timur und seinen Clan zurückgehen. Sie sehen alle aus wie eben errichtet, die blautürkisen Keramikmosaike sind zum Niederknien.
Was daran liegt, daß sie quasi eben errichtet sind. In einem Nebengebäude eine Fotoausstellung, die dokumentiert, wie verfallen all dies bereits war. Ich kann nachempfinden, daß die Restaurierung, laut
Lonely Planet Teil von Präsident Karimovs Unser-Land-soll-schöner-werden-Kampagne, auf deren Konto wahrscheinlich auch Legoland zu verbuchen ist, höchst umstritten war. Schwierig. Einerseits, tut man gar nichts, ist’s irgendwann alles weg; andererseits, tut man was und zuviel, tendiert’s schnell zu einer Rekonstruktion, der etwas Disneyeskes anhaftet, liftet man jegliche Spur von Alter aus dem Antlitz der Geschichte.
Immerhin, es sind nach wie vor echte Gräber und echte Pilgerstätten, das heißt: Keine Kunsthandwerker. Warum das für den armen Timur und seine Söhne und Enkel, die im Guri Amir begraben liegen, nicht gilt, weiß der Henker.
Ich reime mir anhand der vagen Andeutungen meiner
Lonely-Planet-Karte eine gewagte neue Spazierroute zum Hotel zusammen und bin selbst verblüfft, daß das genauso funktioniert, wie ich’s mir gedacht hatte. Ich schlafe ein bißchen – unruhige Nacht – und mache mich dann zum Sonnenuntergang ein zweites Mal zum Registan auf, des Lichtes wegen, diesmal allerdings eher pflichtschuldig als aus Leidenschaft. Und diesmal bin ich entweder fünfzehn Minuten zu spät, oder der leichte Schleier, der im Himmel über der Stadt hängt, dämpft die Farben weg. Ich sitze in der Dämmerung noch ein wenig vorm Registan und höre ein paar Kids dabei zu, wie sie ein klitzekleines Bißchen Schulenglisch an einer Koreanerin erproben – es wird bemerkenswert wenig Englisch gesprochen in Usbekistan, nicht mal Taxifahrer-Bröckchen wie „How much“ oder „Where is“. Außerhalb von Hotelrezeptionen treffe ich niemanden, der flüssig Englisch spricht.
Ich warte, ob der Registan noch was Interessantes tut, aber das tut er nicht, und wundere mich darüber, wie ein so weltwunderspektakuläres Ensemble mich so vergleichsweise kalt lassen kann. Liegt vielleicht am Kunsthandwerkertrauma. Dann gehe ich gegenüber in eine nette Schaschlikeria, die von Einheimischen wie Touristen gleichermaßen gut bevölkert wird, was mich hoffen läßt, das Tier auf dem Grill sei noch nicht allzu arg gealtert.
Guri Amir hingegen tut noch was des Nachts: Es läßt sich schrillblau anleuchten. Eine Farbe, die meinem Teint nicht bekommt, ich zweige lieber vorher ab zu einer Moschee, angelockt vom Gesang, und hänge unter den Bäumen davor ein wenig meinen Gedanken nach.
Mein 40-Minuten-Steppenheimweg ist als Nachtmarsch noch reizvoller als tagsüber. Des Usbeken Meinung zu Straßenbeleuchtung ist der des Turkmenen diametral entgegengesetzt. Sprich: Er hat keine. Völlige Dunkelheit, obwohl die Straße durchaus befahren ist. Und das bei Gehwegen, die sich optisch nahtlos ins Straßenbild von Dresden ’45 eingefügt hätten, was ich natürlich nur haptisch wahrnehme, dies aber intensiv. Der smarte Tourist hat naturgemäß seine Stirnlampe schon wieder im Hotel gelassen – übrigens auch so ein Accessoire von unersetzlicher Nützlichkeit, das im Einsatz einen völlig verblödeten Eindruck macht. Als ich in die finstere und auf den ersten Kilometern tatsächlich verwaiste Straße einbiege, mache ich mir zunächst ein bißchen Sorgen, schleppe ich ja stets meine Kamera im Wert von fünfzehn mittelusbekischen Jahreseinkommen mit mir rum. Andererseits, sage ich mir, ist hier bestimmt wie in jedem ordentlichen autoritären Staat Verbrechen verboten, und schreite forsch voran.
Nur weil’s finster ist, hat das Leben in meinem Lieblingsviertel keineswegs aufgehört, au contraire, es herrscht geschäftiges Treiben. Ich kaufe noch Wasser bei meinem Lieblingssupermarkt, den ich schätze, weil er auf kleinstem Raum alles bietet – der Fleischwolf, in dem halbe Schafe verschwinden, steht direkt neben dem Rechner mit Drucker/Kopierer – und schließe vorm Schlafengehen wohlweislich das Fenster.
Ich muß übrigens bloß mal einen halben Tag schmerzfrei sein, schon sticht mich der Hafer. Seit heute Mittag überlege ich, wo ich ein bißchen zusätzlichen
trouble herbekommen könnte. Vielleicht mittels eines Bergwandertages in Taschkent, in 80 Kilometer Entfernung soll es dort sehr schöne Wanderberge geben, und ein solcher Plan wirft natürlich exquisite neue Probleme auf: Ich müßte in Taschkent taugliche Wanderschuhe in Größe 42 auftreiben, woran sich’s schon in Hamburg bequem scheitern läßt, plus entweder topographische Karten oder, wohl sinniger, einen Guide. Hatte noch überlegt, ob ich Wanderschuhe mitnehme (ich sollte mir ein paar Obsessionen zulegen, die keines speziellen Schuhwerks bedürfen, es reduzierte mein Reisegepäck erheblich), ließ es dann, des Gewichtes wegen, dachte, es ginge auch ohne Wanderei. Geht es nicht, ich habe dieses Jahr auf meine Trekkingwoche in den Alpen verzichten müssen und bin auf Entzug. Unterwandert und überstädtert – Taschkent wird meine elfte Stadt innerhalb eines Monats. Warum nicht einen Tag Landflucht, kriege ich einerseits etwas Auslauf und andererseits auch mal die Landschaft hier zu sehen. Beschließe, den Plan in Taschkent weiter¬zuverfolgen, mal sehen, was geht.
Alles gute für Deine Reise