Ich spaziere stattdessen ein Stündchen die Straße hoch, wo’s laut
Lonely Planet ein Kaufhaus geben soll. Das sogar noch steht – die meisten anderen Angaben zu Taschkent werden sich als eher von historischem Interesse erweisen. Treffe dort ein Cargohosenpärchen mit
Lonely Planet in der Hand, das versucht, ein Zelt zu kaufen. Wir wissen nicht, was Zelt auf Russisch heißt. Ich habe Spaß mit der Garderobiere, der ich eine kleine Zeichnung anfertige, mit Bergen und Wäldern im Hintergrund und einem Zelt davor; als das noch nicht wirkt, zeichne ich einen Wanderer mit Rucksack dazu, worauf sie uns umgehend an die Rucksackabteilung überweist.
Man hört übrigens sofort auf, über
Lonely Planet zu lästern, und leistet auf Knien Abbitte, wenn man morgens mal eine halbe Stunde glaubt, ihn verloren zu haben.
O Wunder, im zweiten Stock verstecken sich in der Schuhabteilung tatsächlich ein paar chinesische Wander-Halbschuhe, sogar in Größe 42. Nun bedürfen feenhafte Fesseln wie die meinen eigentlich knöchelhoher Stiefel, aber für zwei Wandertage, hier und in Almaty, wird’s ja wohl gehen. Die 60 Euro soll es mir wert sein. Und, O Zweitwunder, man kann mit Visakarte bezahlen, zum ersten Mal seit Istanbul. Zwar habe ich in einem großen Samarkander Hotel schon einen Geldautomaten gesehen, nur erfüllte der rein dekorative Zwecke, es war kein Geld drin, was der befriedigenden Begegnung mit Geldautomaten eher abträglich ist. Ich sah’s als gutes Omen. Mein Bargeld nämlich wird nicht mehr ewig reichen.
Zum ebenfalls ersten Mal seit der Istanbuler Sintflut sehe ich heute morgen einen bedeckten Himmel – klar, ich will ja morgen wandern gehen, da muß folgerichtig heute der Monsun einsetzen.
Was ich seit Istanbul nicht mehr gesehen habe, sind die Innenstadt-Einkaufsstraßen mit den global immergleichen Handelskettenfillialen. Ich vermisse sie gewiß nicht. Seit Turkmenistan dominiert die Basarkultur, Basare jeglicher Couleur, von Obst & Gemüse bis zu Juwelenhändlern.
Mit der Metro fahre ich ein Stück nach Süden. Dem
Lonely Planet habe ich den Namen der auf Trekking etc. spezialisierten Agentur
Elena Tour entnommen, dem Internet deren aktuelle Adresse. Die Telefonnummer allerdings führt nur zu sinnlosen Geplänkeln mit überforderten Russinnen, und mein Wanderplan ist in zweiter Linie natürlich eine Stadterkundungsstrategie, also begebe ich mich halt zum Büro. Auf
Elena Tour fiel meine Wahl, weil meine fabelhafte Dometscherin und Reisebegleiterin in Kamtschatka so hieß, warum nicht, irgendwelche Entscheidungskriterien braucht man eben.
Die Metro ist klasse. Analog zu der in Moskau sind die Stationen prachtvoll und nach variierenden Thematiken ausgeschmückt. Analog zur Moskauer Metro dient sie leider auch als Atombunker und darf somit nicht fotografiert werden, worüber jeweils ein halbes Dutzend Polizisten wacht. Als ich in der überaus schrillen „Kosmonautlar“ mir gerade wenigstens ein Handyfoto erschleichen will, setzen sich mir zwei Stück direkt gegenüber, verdammt. (Meinen nächsten Atomkrieg verbringe ich übrigens trotzdem lieber in der Moskauer Metro, die liegt nämlich zehnmal so tief unter der Erde.)
Ich steige an der folgenden Station aus. Des bedeckten Himmels wegen kann ich mich nicht einnorden (brauche zu allem anderen Krempel wohl doch noch mal einen Kompaß) und frage einen der ubiquitären Polizisten nach dem Weg, der mich prompt in die Irre schickt. Was ich merke, als die Sonne wieder durchbricht. Bis dahin habe ich schon wieder ein interessantes Stückchen Stadt abgewandert.
Trotz größtenteils russischer Reklame- und Ladenschilder und naturgemäß allerlei Sowjetarchitektur vermittelt Taschkent wenig Rußlandgefühl. Es hat eine sehr eigene Identität. Wer sich fragt, wie die Leute aussehen: Es gibt solche und solche, und die anderen auch. Einige sehr europäische Gesichter, einige sehr russisch, einige asiatisch in jeglichen Varianten. Von allem was dabei. Die Einteilung Zentralasiens in Staaten erfolgte auf dem Reißbrett, zusätzlich ad absurdum geführt durch’s traditionelle Nomadentum der Kasachen, Turkmenen, Kirgisen. In Wirklichkeit herrschte hier seit Urzeiten ein bunter Völkermix. Und daß wir uns in der Schnittmenge von Europa und Asien bewegen, läßt sich dem Ethnoprofil jedes zufällig ausgewählten U-Bahn-Waggons entnehmen.
Was nicht heißt, es ermangele den verschiedenen Ethnien an ausgeprägten Eigenheiten. Der Usbeke zum Beispiel verabscheut das Straßenschild im selben Maße wie den Salzcracker. Sprich: Es gibt keine. Ist mir schon in Samarkand aufgefallen. Ich irre herum, denn das
Elena Tour-Büro muß irgendwo in einem Seitengäßchen liegen. In einem solchen frage ich schließlich bei einem kleinen Hotel nach dem Weg und finde heraus, daß eben dieses Hotel dort steht, wo früher
Elena Tour gewesen sein muß. Erklärt die disfunktionale Telefonnummer. Soweit dazu.
ABER: Kam ich doch vor zwanzig Minuten in einer ausgestorbenen Wohnstraße an einem Schild vorbei:
Asia Travel. Spezialisiert auf Trekking etc. Muß ein Zeichen gewesen sein. Ich trabe zurück.
Konferenz bei
Asia Travel zwischen einem englischsprachigen Herrn, der vom Wanderbusiness keine Ahnung hat, einer nichtenglischsprachigen Frau, die das Wanderbusiness koordiniert, und mir. Einen Privatführer haben sie nicht übrig, es ist Hochsaison. Meine einzige Chance sei, mich morgen einer Gruppe Franzosen anzuschließen, die am ersten Tag ihres Trekkingtrips bloß eine Rundwanderung machten, so daß ich abends von Chimgan versuchen könnte, per Taxi oder Marshrutka nach Taschkent zurückzukommen. Nun bin ich zwar der Ansicht, Wandern ist eine höchst intime Angelegenheit, die man wie Sex allein oder mit höchstens ein, zwei guten Freunden ausüben sollte, nicht mit einem sechzehnköpfigen Trupp Franzosen; aber wenn’s halt meine einzige Chance ist, ist’s meine einzige Chance.
Alles andere ist illusorisch, weder kann ich – selbst mit topographischer Karte – allein durch die Berge Usbekistans stolpern, deren Wege womöglich nicht ganz den Schweizer Alpenvereinsstandards entsprechen werden, und die zudem wegen Grenznähe gesperrt oder vermint sein könnten (zu
Lonely Planets Zeiten waren sie’s); wäre eine Idiotenidee, was, wenn man sich doch mal einen Haxen bricht. Noch läßt es sich jetzt, um 16:30, eine andere Agentur auftreiben. Dann also sechzehn Franzosen, die ich morgen früh um 8:45 in ihrem Hotel treffen soll, mitsamt des Reiseleiters Kamariddin. Fünfzig Dollar kostet der Spaß, dafür gibt’s Picknick inklusive. Man drückt mir noch eine mittelprächtige halbtopographische Faltkarte in die Hand, wo morgen gewandert wird, davon allerdings haben beide
Asia Traveller keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen, ich steh’ auf Überraschungen.
Ich trete den langen Weg zurück an, vom Süden der Stadt nach Nordwesten zum Hotel, mit Detour übers Zentrum. Rund um den zentralen Platz, wo eine Reiterstatue Timurs Herrn Marx ersetzt hat, zeigt sich neben einer prima Sowjethotelfassade auf’s Schönste der Hang jedes ordentlichen autokratischen Präsidenten zum Bauwesen, und zwar insbesondere zum Palastbauwesen. Auch Taschkent hat übrigens viele ausufernde, schöne Parks, mit nicht wenigen Brunnen-, Denkmal- und Architekturkuriositäten darin.
Zunächst aber gehe ich den Amir-Timur-Boulevard weiter hoch, auf der Suche nach dem Goethe-Institut, wo ich, falls doch wer zu Hause ist, einfach mal Hallo sagen wollte. Das einzige, was der Usbeke noch mehr verabscheut als Straßenschilder und Salzcracker ist die Hausnummer. Als ich schon fluchend aufgeben will – ich latsche seit nunmehr sieben Stunden durch drückende Hitze – fällt mein Blick auf ein schmuckes Häuschen direkt neben einem großen Basar: Das Goethe-Institut. Die Pförtner sprechen mich auf Deutsch an, was mir überaus schräg vorkommt. Leider ist die Vertreterin des sehr netten Menschen vor wenigen Minuten heimgegangen, es ist Freitagabend, 18 Uhr. Ich hinterlasse wenigstens ein Brieflein mit Dank.
Während ich in der Abenddämmerung durch Fußgängerstraßen und diverse Parks Richtung Hotel streune, grollt es aus den lilagrau zusammengeballten Wolkenbergen, und kurz darauf regnet es: Der erste Regen seit Istanbul.
Ich frottiere mich im Hotel, und obwohl ich eigentlich mal abends Gastronomie und Nachtleben erkunden sollte, bin ich zu müde dafür. Leider. Zudem sah ich den ganzen Tag nirgends ein verlockendes Etablissement und besitze keinen Regenschirm. Kurz: Ich schaff’s nicht weiter als bis in die Lobby, und habe auch nicht mehr Hunger als auf ein Sandwich. Das Hotelrestaurant bietet darüber hinaus den Vorteil, daß ich mich beim Essen über meinen nichtfunktionierenden Mailserver ärgern kann, und dann hab ich’s nicht mehr weit bis ins Bett. Muß morgen schließlich früh hoch und sechzehn Franzosen ins Auge sehen.