Die Dame heißt Dila und ist auf einer Frequenz- und Volumeskala derart aufgekratzt, die ich noch nicht bedienen kann. Sie hat, o Wunder, meine Zugtickets dabei und der Rezeptionistin – in der jetzigen Schicht eine englischsprechende Wohlmeinendere – Geld versprochen. Außerdem hat sie ihre Lesebrille vergessen und ist somit nicht in der Lage, Fragen zum Ticket zu beantworten, will sich mir aber unbedingt als Stadtführerin andienen. Ich würge sie damit ab, mir ihre Telefonnummer aufschreiben zu lassen, und gehe zurück ins Bett, danke.
Nun ist in Turkestan nicht genug Stadt vorhanden, als daß eine Führerin sich ihrer annehmen könnte, wie ich feststelle, als ich weitere zwei Stunden später mich zusammensortiere. Turkestan ist ein Kaff. Ich habe das schon vermutet, nicht jedoch in diesem Ausmaße. Auf, zunächst und dringlich, der Suche nach einer Bank, laufe ich die Straße hinunter – es gibt eigentlich nur eine. Jedenfalls Downtown. In Ermangelung irgendeines Kaffees kaufe ich mir eine Cola, womit meine Tenge-Barschaft auch fast erschöpft ist. Die Bank, es gibt nur eine, ist zwar mit 80 wartenden Menschen gut gefüllt, Geldwechsel aber beginnt erst in einer halben Stunde. Schön, denke ich, schaue ich mir bis dahin die Stadt an. Nach fünf Minuten bin ich damit fertig und vertreibe mir die Zeit bis Wechselbeginn in einem Gespräch mit einem goldzähnigen Hallodri und seinem verschämten Teeniesohn.
Geldwechsel geht in einem Séparée vonstatten, ich muß dafür erfreulicherweise keine Nummer ziehen und mich unter die 80 Wartenden einreihen. Es scheint die einzige Wechselmöglichkeit der Stadt zu sein, was ich nicht gedacht hätte, auch wenn Turkestan klein ist, so liegt es doch zum einen grenznah und hat zum anderen mit dem Yasaui-Mausoleum Kasachstans wichtigste Pilgerstätte und bedeutendstes historisches Monument. Wäre ich an einem Sonntag hier aufgeschlagen, wäre ich gefoppt gewesen. (Wäre ich nicht – erstaunlicherweise funktioniert fast alles dann doch immer irgendwie.)
Mit frischen Tenge in der Tasche drehe ich eine weitere Runde durch Downtown. Ich bin hier fraglos ein Ereignis. Man staunt und verwickelt mich in Smalltalks rechts und links des Wegesrands, mit Minimalenglisch, Minimalrussisch oder einer Kombination aus beidem. Nicht nur meine germanische Herkunft, vor allem die Tatsache, daß ich allein reise, erregt Aufsehen. Wär’s Sonntag gewesen, hätte ich mein Geldproblem dadurch gelöst, Eintritt für mich zu verlangen.
Ich besichtige das Yasaui-Mausoleum, das übrigens keinen Eintritt kostet. Timur hat einst über dem Grab des Sufi-Weisen und Poeten Kozha Akhmed Yasaui einen Schrein errichten lassen, starb aber vor Fertigstellung.
Es gefällt mir gut. In seiner Unfertigkeit, mit seinem Standort inmitten weitläufiger, verdorrter Felder. Ein Rosengarten kämpft davor gegen die Dürre, auf der Rückseite sind Bau- und Restaurationsarbeiten im Gange. Kein Kunsthandwerk, die wenigen Souvenirshops führen Pilgerbedarf. Im Eingangsbogen nisten hunderte Schwalben und tschilpen.
Trotz der Heiligkeit des Ortes und seiner Bedeutung als Pilgerstätte legt man salopp wenig Wert auf Äußerlichkeiten. Ich sehe Besucherinnen in Hotpants, nur das Haar wird – eher symbolisch – bedeckt, am Eingang gibt’s Leihtücher zu diesem Zwecke, ich trage aber eh Bandana wegen Sonnenstichgefahr. Man fragt nach meiner Nationalität, dann heißt man mich willkommen.
Unter der Kuppel eine Halle von weißer Leere, im hinteren Teil befindet sich der Schrein aus grünem Marmor. Ich gehe zunächst in das Kämmerchen zur Rechten, verweile dort, eine klare Männerstimme singt von irgendwoher einen anrührenden Gesang, die Klänge vermischen sich mit dem Geräusch der Bautätigkeit. Linkerhand des Schreins entdecke ich den Sänger, ein junger Mann sitzt dort, Grüppchen oder Familien, Pilger oder Besucher, setzen sich für einige Minuten zu ihm, er singt, die Akkustik des Gewölbes trägt sein Lied hoch und weit. Dann spricht er ein kurzes Gebet für und mit den Anwesenden. Ich setze mich am Rande dazu, aber meine Schüchternheit ist unnötig, hier wird keine ausschließende Religiösität zelebriert, im Gegenteil. Es ist schön, und der Gesang macht mir Gänsehaut. Außerdem gefällt mir naturgemäß, ist der Heilige gleichermaßen als Dichter verehrt.
Ich streune unter der brennenden Nachmittagssonne im Ort umher – im Gegensatz zu den großen Städten kann sich Turkestan keine großzügige Bewässerung seiner öffentlichen Anlagen leisten, alles Grün ächzt unter Sonne und Staub. Ich wundere mich über ein Denkmal im Park, das mir dem Tennisball gewidmet zu sein scheint. Ich plausche mit diversen neugierigen Passanten. Nachdem ich während dreier Stunden weder Polizisten noch Melonen gesehen habe, dafür aber Dutzende öffentliche Abfalleimer, wird mir unmißverständlich klar, daß ich das Land gewechselt habe.
Die Stadt ist kasachisch. Fällt mir wahrscheinlich nur deswegen so deutlich auf, weil mir in Taschkent die ethnische Diversität in der U-Bahn ins Auge sprang. Hier sind alle Gesichter kasachisch, und es wird kein Russisch gesprochen, nur mit mir.
Immer wieder beobachte ich ja interessiert, wie sehr sich die Grenzen eigentlich nach Grenzen anfühlen. Zwischen Iran und Turkmenistan drastisch – kaum zu glauben, daß zwischen zwei derart unterschiedlichen Städten wie Maschhad und Ashgabat bloß so vergleichsweise wenige Kilometer liegen. Zwischen vollständig anderer Kultur, anderen Menschen, anderer Sprache, anderer Mentalität. Hier läßt sich schwer sagen, wieviel die Landesgrenze trennt, denn der wesentliche Kultursprung scheint mir der zwischen Provinz und Großstadt zu sein.
In Turkestan bin ich hauptsächlich deswegen gelandet, weil’s grenznah liegt und, zur Abwechslung, eine Kleinstadt ist, eine gute Wahl, ich mag es sehr, einen Tag in einem solch schläfrigen Städtchen zu vertändeln. Abends besuche ich erst ein kleines Internetcafé, in das mich vorhin ein paar aufgeregte Youngsters zu locken versuchten, esse dann in einer offenbar beliebten Schaschlikeria, wo sich ein junger Typ, den Freunde oder Freundin versetzt zu haben scheinen, zu mir setzt, und wir ein fröhliches Rudimentärgespräch zusammenradebrechen. Er begleitet mich noch zum Hotel, macht sich Hoffnungen, vergeblich, fragt mich nach allem Möglichen, unter anderem nach meiner Religion, er ist natürlich Muslim. Ich mute ihm mal zu, keine zu haben, worauf er mich belustigt fragt, ob ich vielleicht Satanist sei – es stellt sich heraus, er steht auf finnischen Death Metal. Ein sichelförmiger Mond liegt über dem Yasaui-Mausoleum und macht sich gut dort.
Auf den Tag genau vor einem Monat bin ich morgens um halb neun am Hamburger Hauptbahnhof in den Zug gestiegen. Ich resümiere ein bißchen. Über meine rote Linie, die zur Hälfe jetzt Gestalt angenommen hat, in Form von Straßen und Schienen, von Menschen und Geschichten, von Wetter und Landschaft. Die Punkte darauf mit den Namen von Städten sind Bilder und Erinnerungen geworden. Was mich verblüfft ist, wie wenig weit mir die Distanz zwischen Hamburg und hier eigentlich erscheint, nun, da sich der Weg zu Welt gewandelt hat.
Es ist lange her, daß ich so lange allein unterwegs war. Es ist toll, allein zu reisen, man trägt unweigerlich eine größere Offenheit umher, ein Vakuum, das sich mit Begegnungen füllt. Der Vorzug des Reisens in Gesellschaft hingegen ist, jemanden zu haben, mit dem sich das Erlebte teilen läßt. Manchmal fehlt mir das; es ist schön, diesen Blog zu haben, ist ein bißchen, als hätte man Mitreisende. Trotzdem, da jede Begegnung unterwegs den allzuschnellen Abschied in sich trägt, beginnen mir Freunde zu fehlen. Nicht schlimm, aber ein bißchen. (Und seit drei Tagen fehlt mir tatsächlich merkbar der Tango, ist’s zu glauben?)
Wringe schnellstmöglich noch etwas Schlaf aus der Nacht. Mein Zug nach Astana geht um 3:45, wer wohl auf solche Ideen kommt. Schon heute nachmittag habe ich bei der Rezeptionistin mehrfach ein Taxi für drei Uhr beantragt, kein Problem, sagte sie jedesmal, ich mache mir trotzdem zum ersten Mal Sorgen darüber, einen Zug zu verpassen. Hier gestaltet sich der PKW-Verkehr schon tags übersichtlich, wer sich um drei an den Straßenrand stellt, ein Taxi zu winken, wartet vermutlich doch etwas länger.