Um Punkt 3:00 stehe ich in der Lobby, relativ wach, Zugversäumnisängste motivieren. Beides unterscheidet mich kenntlich von der Rezeptionistin, die zuerst nicht wach und dann nicht motiviert ist. Sie ruft zwar bei einem Taxiruf an (wer hätte gedacht, daß es sowas hier gibt), fällt aber in der Warteschleife umgehend in Sekundenschlaf, murmelt dann etwas in den Hörer und teilt mir mit, alle Taxis seien belegt, da könne man nichts machen, sie senkt die Lider. JAHAA, brülle ich laut genug, sie hochzuschrecken, deswegen hätte ich das Taxi ja bereits heute nachmittag beantragt, mein Zug nämlich fahre dessen ungeachtet. Sie sieht mich reglos an und versucht, mit offenen Augen weiterzuschlafen. Hilft die Strategie Doofer-Tourist-braucht-mitleidigen-Beistand nicht weiter, gehe ich gern zu Plan B über: So lange jemandem im Weg zu sein, bis er mir allein deswegen behilflich ist, um mich endlich loszuwerden.
Dienstag, 17. August 2010
17. August. Turkestan – Astana, in instabiler Seitenlage
Es wirkt. Ein wortloser Zehn-Minuten-Showdown zwischen uns, Close-up auf unsere Augenpartien und schweißnassen Stirnen, Morricone-Soundtrack im Hintergrund. Jedesmal, wenn ihr die Augen zufallen, sage ich laut irgendwas, um sie wach zu halten. Ein Tumbleweed weht über die staubige Straße, Fliegen summen. Schließlich wird ihr klar, ihre einzige Chance auf ungestörten Schlaf ist, mich aus der Stadt zu schaffen. Die ist nämlich zu klein für uns beide. Mit letzter Kraft greift sie erneut zum Hörer und besorgt mir ein Taxi. Ich wirble meine Colts, hülle mich in meinen Poncho und reite zur Stadt hinaus.
Erstaunlicherweise funktioniert nämlich fast alles dann doch immer irgendwie. Ich bin überpünktlich am Bahnhof, wo bemerkenswert viel Buhei ist, der Zug fährt umgehend ein. Ich zwänge mich mit Sack und Pack an Bord und, auha.
Seit Istanbul reiste ich 1. Klasse, sprich: In Abteilen. Gab’s auf dieser Strecke nicht, und somit befinde ich mich jetzt inmitten der klassischen Platskartny-Experience.
Platskartny geht so: Im offenen Großraumwaggon sind linkerhand Sixpacks von Pritschen übereinander quer zur Fahrtrichtung angeordnet, zur Rechten des schmalen Ganges ist parallel eine Art Billy-Regal an der Zugwand aufgestellt, wo pro Sixpack drei weitere Reisende gestapelt werden; dies mal neun, also prinzipiell 81 Fahrgäste, die doppelt belegten Kojen nicht mitgezählt – Mütter teilen sich die ihre generell mit mindestens zwei Kindern und/oder fünfzehn Melonen. Für alle Beteiligten gibt es an einem Waggonende ein Klo und am anderen einen Samowar.
Nun fuhr ich durchaus schon Platskartny, und kann berichten, daß es zum einen unglaublich lustig ist – ein bißchen so, als hätten die Hennen einer Legebatterie mal richtig Spaß –, und daß ich zum anderen jedem, der die handelsüblichen Thrills und Herausforderungen schon durch hat, ans Herz legen kann, mal Platskartny im Nachtzug Kaminsky-Podolsky (o.s.ä.) – Kiew zu fahren, und zwar in der hintersten, untersten Koje direkt bei den Toiletten; oder aber sich in Turkestan im Hotel Yassi Zimmer 405 geben zu lassen und dort zu versuchen, das Türschloß auf- oder zuzuschließen.
Meine heutige Pritsche befindet sich mittig im Billy-Regal, was die Challenge erhöht, sind die Billyregalfächer doch bloß so ca. fünfundvierzig Zentimeter breit, sicher zehn bis fünfzehn weniger als die Sixpacklager quer zur Fahrtrichtung, die zudem den Vorteil haben, daß man die Füße zum Gang hin überhängen lassen kann. Das Regal hingegen fordert jeden Pygmäen heraus. In meinem Kästchen aber, das der Schaffner mir anweist, liegt sowieso ein großer, schwitziger Mann und füllt es vollständig. Belegt, sagt der Schaffner und läßt mich stehen. Man rufe sich in Erinnerung, daß mich ein großer Rucksack rücklings überragt und mir ein nicht wirklich kleiner vor dem Bauch beutelt. Zudem trage ich eine Proviantplastiktüte im Stadium finaler Erosion in den Händen.
Der Mann in meinem Fach ist mir an Körpermasse und Entschlossenheit und olfaktorisch sowieso überlegen, keine Frage. Ich ziehe mich zurück – rückwärts, bebeutelt, wie ich bin, kann ich nicht wenden. Nun hat mir ja schon vor hundert Jahren irgendwo auf dem Balkan mal ein Schaffner ein Alternativbett angewiesen, als das meine belegt war, ich bin mir dementsprechend nicht sicher, ob ich den Zweikampf mit dem Fachbeleger aufnehmen oder mich woanders einsortieren lassen soll.
Schaffner, bei der nächsten Begegnung, zeigt keinerlei Mitleid mit dem doofen Touristen, es gilt hier offensichtlich: Every man for himself. Ich wende Plan B an: Ihm so lange im Weg zu sein, bis er gar nicht umhin kann, mich irgendwie fortzuschaffen.
Das geht mit zwei Rucksäcken und einer voluminösen Plastiktüte enorm gut. Ich postiere mich direkt vor seinem Kabäuschen. Als er das nächste Mal vorbei will, kommt er nicht durch. Sein Problem, nicht meines. Harr.
Er textet mich unwirsch zu, ich sage ihm lächelnd, daß ich kein Wort Russisch verstünde, der inhärente Widerspruch, ihm dies auf Russisch zu sagen, fällt ihm nicht auf. Will er hier in den nächsten 30 Stunden durch, muß er mich wohl oder übel irgendwo verstauen.
Er verdreht die Augen, schreitet zu meinem Regal und räumt den großen, schwitzigen Mann weg, der sich knurrend trollt. Dann gibt er mir Bettwäsche. Ich wirble meine Colts, beziehe das Matratzensäckchen und falte mich in mein Fach. Harr. Jetzt darüber nachzudenken, daß mich nichts vor dem freien Fall rettete, wenn ich mich im Schlaf auf 45 Zentimetern umzudrehen versuche, führte zu nichts.
Ich verbringe den Rest der Nacht, origamiartig zu einem kompakten Päckchen gefaltet, mit etwas Ähnlichem wie Schlaf. Vormittags dann stellt sich die Frage, was nun. Hinsetzen geht nicht, das können nur die Ebenerdigen. Wir im ersten Stock bleiben in unsere Fächer sortiert. Living in a box. Meine Leidensgenossen, soweit ich das überblicke, schaffen sich entweder ebenerdige Freunde an oder schlafen dreißig Stunden.
Da keiner mein Freund sein will und ich schüchtern bin, versuche ich es mit letzterem. Das aber kann nicht jeder, hier sehen wir einem der wirklich fundamentalen Unterschiede zwischen den Völkern ins Auge: Die einen können’s, die anderen nicht, und keiner kann’s besser als die Khmer.
Mit Ach und Krach schinde ich noch ein paar weitere Stunden bis zum frühen Nachmittag raus. Dann verlege ich mich auf’s Beobachten – zum Lesen sind die Schmerzen zu groß.
Muß auch nicht sein, es gibt genug zu gucken. Ein Karawane von Einzelhändlern zwängt sich durch den Gang, morgens schon kaufte ich einen Zentner Äpfel (die kleinste erwerbbare Packungsgröße, ich wollte bloß fünf, aber so läuft das nicht), jetzt folgen Frauen mit mehreren Kubikmetern Damenmode auf den Schultern, Herren mit Religionsbedarf (reges Interesse bei den zwei verschleierten Musliminen schräg links), diverse Spielzeug- und Modelbauanbieter, allerlei Kulinarisches in Körben. Einmal zieht gar eine dreiköpfige Boygroup vorbei, die auf traditionellen Instrumenten jedem Sixpack ein Lied aufspielt und mit einem Gebet abrundet. Ich hätte ihnen auch Geld gegeben, aber uns Regalinhabitanten schenken sie keine Beachtung. Bei den Zwischenhalten – und es gibt viele – wechseln Teile der Belegschaft. Während eines Stops stürmen alle hinaus auf den Bahnsteig und kaufen jeder drei Kürbisse. Als nachmittags die mittlere Sixpackpritsche direkt vor meiner Nase, die minütlich größer und ausladender erscheint, bis sie mir das Ausmaß eines Fußballfeldes vorgaukelt, über Stunden von einem Sechsjährigen okkupiert wird, empfinde ich Lebensraumneid. Hätte allerdings auch schlimmer kommen können – die obersten Pritschen dienen hier im nichtausverkauften Zug als Gepäckfächer, was ihre diversen Bewohner natürlich nicht davon abhält, sie trotzdem zu bewohnen. Und die haben nicht mal ein Matratzensäckchen. Man sollte nicht undankbar sein.
Trotz des ganzen Wuhlings bleibt der Zug erstaunlich sauber – der Schaffner fegt regelmäßig durch, und selbst das Klo wird instand gehalten, obgleich es sich um einen dieser unheiligen Hybriden aus Sitz- und Hocktoilette handelt, die beiderlei Nutzungsarten selbst einem ausgebildeten Yogi verunmöglichen. Sowohl die Sauberkeit unterscheidet diese Fahrt vom Kaminsky-Podolsky-Törn, als auch die Bettwäsche – wir haben alle Laken und Kissenbezüge in verschiedenen hellblauen Mustern, was es irgendwie unglaublich gemütlich macht. Sieht man mal von den unerträglichen Schmerzen ab.
Was bei Kaminsky-Podolsky – Kiew geschmeidiger lief, war die ausufernde Kommunikativität. Hier liege ich allein in meinem Regal und verstaube.
Es rettet mich eine polizeiliche Papierekontrolle am späten Nachmittag. Die beiden Bemützten bestaunen meinen Paß, ja, sage ich, dochdoch, Germania, Njemka. Deutsche Demokrrratische Rrrepublik, strahlt der eine; naja, so ähnlich, sage ich. Halten wir uns nicht mit Feinheiten auf. Drei Minuten später steht eine junge Frau vor meinem Kästchen. Ob ich Englisch spräche, ich bejahe; ob ich Deutsche sei; ich bejahe; man hätte mich für eine Russin gehalten, ob ich nicht runterkommen wollte und Tee trinken. Ich bejahe.
Von nun an läuft’s geschmeidig. Wobei ich nicht zu sagen vermag, ob man an Russen nicht interessiert ist oder sie nicht leiden kann – der Zug ist nahezu hundertprozentig kasachisch, und es wird auch nichts anderes gesprochen. Außer mit mir. An Deutschen ist man nämlich überaus interessiert. Zhongaya, so heißt die Frau, Anfang Dreißig ist sie, Englischlehrerin in Astana, quält sich mir zuliebe durch ihre recht fragilen Englischkenntnisse und dolmetscht all die neugierigen Fragen, die gleichzeitig mit jeder Menge Nahrungsmitteln auftauchen. Ich bekomme Grünen Tee – der doofe Tourist hat natürlich keine eigene Tasse dabei, obwohl er noch folgenlos dran dachte – und Kekse; wenigstens kann ich dafür einen kaum gebrauchten Zentner Äpfel in die Runde einbringen.
Auch der Schaffner, mittlerweile arg derangiert im Schießerrippunterhemd, hat sich zu uns gesellt. Wir klären via Zhongaya die Parameter ab. Ich bin 41, nicht verheiratet, keine Kinder. Sie ist 42, sagt Zhongaya und weist auf die dicke Dame unseres Grüppchens, die mit Enkeltochter und ihrem eigenen ca. achtjährigen ADS-Sohn alle Hände voll zu tun hat. Warum, werde ich gefragt; zum einen – nicht den richtigen Kerl gefunden, sage ich, zum anderen – reise und arbeite ich lieber als zu heiraten und Kinder zu kriegen. Man staunt und bedenkt dies. Sie staunen und bedenken, sagt Zhongaya; ist mir nicht neu, sage ich. Schießerrippschaffner springt auf und prescht davon; ist er jetzt los, mir schnellstmöglich einen Ehemann zu besorgen, frage ich und habe damit die Lacher auf meiner Seite. Ich hätte keine Probleme, sage ich zu Zhongaya, mir aus jedem von mir bereisten Land drei bis fünf potentielle Ehemänner als Souvenir mitzubringen, sie bezweifelt es nicht.
Eine Händlerin trägt meterlange Räucherfische vorbei, einer der Typen unserer kleinen Party kauft mehrere davon; er ist einunddreißig und hat morgen Geburtstag, da wird er Bier trinken, dazu braucht’s Räucherfisch, erklärt Zhongaya. Einen Fisch verzehren wir sogleich. Er ist irrwitzig salzig, ich esse ihn nur, weil’s lustig ist. Ein anderer Typ fragt mich, warum ich diese Omabrille trüge – eine John-Lennon-Gedächtnis-Nickelbrille –, wo ich doch eigentlich so hübsch wäre. Ich lasse ihm ausrichten, ich hasse es, Brille zu tragen und hätte eigentlich Kontaktlinsen, nur jetzt gerade wäre das unpraktisch. Hey, im Billyregal kann ich nicht mal meine Nasenflügel blähen, wie sollte ich da Kontaktlinsen rein- und rausprökeln, hm? Warum ich mir die Augen nicht lasern ließe; weil ich eine Memme sei, sage ich.
Zhongaya und ich unterhalten uns. Sie hat eine neunjährige Tochter, die aber bei der Großmutter in Taraz lebe, während Zhongaya in Astana arbeite. Astana ist sehr, sehr teuer, europäische Preise bei kasachischen Löhnen. Zhongaya wohnt in wechselnden Gemeinschaftswohnungen, gefielen ihr die Leute nicht, ziehe sie weiter, sie hätte halt als Kasachin die nomadischen Gene. Mit ihrem Job ist sie unzufrieden. Vorher habe sie als Dolmetscherin gearbeitet, wäre aber entlassen worden, und es würden bevorzugt entweder Männer eingestellt, bei denen keine Gefahr eines Ausfalls durch Schwangerschaft bestünde, oder junge, hübsche Model-Mädchen. Sie will versuchen, einen Einstieg in den TV-Journalismus zu finden, zehn Tage hat sie noch Zeit für Jobsuche, bevor ihr Urlaub zu Ende ist. Unendlich gerne würde sie auch reisen, sagt sie, es müsse sich eine Arbeit finden lassen, die ihr das Reisen ermögliche, unbedingt und bald, sie sei nicht mehr jung genug, noch lange zu warten.
Das Gespräch kommt auf Sprache. Zhongaya erzählt mir einiges über die Struktur des Kasachischen, und wie wichtig ihr ihre Sprache sei. Es verärgert sie, daß die Russischstämmigen selten Kasachisch lernten, während die Kasachischsprachigen fast alle Russisch könnten. Ich mag es, wenn jemand so begeistert von seiner Sprache schwärmt. Wir reden von der Umstellung vom Russischen auf’s Kasachische, die im Gange ist; wobei sie es wiederum schade fände, ginge das Russisch dabei perdü, eröffnet es doch weitreichende Chancen. Ich erzähle ihr, daß die Schweiz drei Sprachen habe, und wie neidisch ich darauf immer gewesen sei, wenn ich Schweizer traf, die fließend Deutsch, Französisch und Italienisch sprachen, plus natürlich Englisch. Sie findet das hochinteressant. Dann bietet sie mir Kartoffeln aus einem mitgeführten Topf an.
Seit sich meine deutsche Herkunft rumgesprochen hat, ist’s auch in der Raucherecke viel kommunikativer geworden, ich mache diverse Bekanntschaften und wir stoppeln Gespräche zusammen. Bei Anbruch des Abends fahren wir an der Küste des Balkhashsees vorbei, er ist groß wie ein Meer. Eine rote Sonne legt sich in der Steppe zum Schlafen nieder. Zhongaya liebt die Steppe, sie liebt ihr Land. Selbst die harten Winter in Astana mag sie, über die sonst unisono geflucht wird. Ich müsse wiederkommen, sagt sie, und die ländlichen Gebiete bereisen, der Leute wegen vor allem, sagt sie, die kasachischen Menschen seien warm und wundervoll. Das muß ich wohl, sage ich, und meine es ernst.
Es wird dunkel, und irgendwann, es hilft ja nichts, muß ich in mein Schächtelchen zurück. Wie gut, daß ich unter anderem deswegen reise, um’s mal ordentlich unbequem zu haben. Ich komme in dieser Hinsicht hier voll auf meine Kosten.
Als wir morgens kurz vor neun Astana erreichen, fehlen mir zwei bis drei Bandscheiben im Kreuzbereich. Könnte aber schlimmer sein – Economy auf Langstrecke fliegen zum Beispiel. Da gibt’s ja nicht mal Räucherfisch. Schweren Herzens lasse ich das nächste Buch zurück, Yu Huas „Brüder“, ein großartiger Roman. Ob er irgendwie durchkommen wird? Ich fragte Zhongaya, ob nicht einer ihrer Studenten vielleicht Deutsch lernte und das Buch haben wollte, aber sie verneinte. Die Brüder werden Platskartny in eine ungewisse Zukunft weiterreisen müssen. Ich helfe noch dabei, das ausufernde Gepäck der dicken Dame zum Fenster rauszureichen – zum Schluß wird noch das Kleinkind hinterhergeschoben –, verabschiede mich herzlich und humpele dann frohen Mutes Astana entgegen.
Erstaunlicherweise funktioniert nämlich fast alles dann doch immer irgendwie. Ich bin überpünktlich am Bahnhof, wo bemerkenswert viel Buhei ist, der Zug fährt umgehend ein. Ich zwänge mich mit Sack und Pack an Bord und, auha.
Seit Istanbul reiste ich 1. Klasse, sprich: In Abteilen. Gab’s auf dieser Strecke nicht, und somit befinde ich mich jetzt inmitten der klassischen Platskartny-Experience.
Platskartny geht so: Im offenen Großraumwaggon sind linkerhand Sixpacks von Pritschen übereinander quer zur Fahrtrichtung angeordnet, zur Rechten des schmalen Ganges ist parallel eine Art Billy-Regal an der Zugwand aufgestellt, wo pro Sixpack drei weitere Reisende gestapelt werden; dies mal neun, also prinzipiell 81 Fahrgäste, die doppelt belegten Kojen nicht mitgezählt – Mütter teilen sich die ihre generell mit mindestens zwei Kindern und/oder fünfzehn Melonen. Für alle Beteiligten gibt es an einem Waggonende ein Klo und am anderen einen Samowar.
Nun fuhr ich durchaus schon Platskartny, und kann berichten, daß es zum einen unglaublich lustig ist – ein bißchen so, als hätten die Hennen einer Legebatterie mal richtig Spaß –, und daß ich zum anderen jedem, der die handelsüblichen Thrills und Herausforderungen schon durch hat, ans Herz legen kann, mal Platskartny im Nachtzug Kaminsky-Podolsky (o.s.ä.) – Kiew zu fahren, und zwar in der hintersten, untersten Koje direkt bei den Toiletten; oder aber sich in Turkestan im Hotel Yassi Zimmer 405 geben zu lassen und dort zu versuchen, das Türschloß auf- oder zuzuschließen.
Meine heutige Pritsche befindet sich mittig im Billy-Regal, was die Challenge erhöht, sind die Billyregalfächer doch bloß so ca. fünfundvierzig Zentimeter breit, sicher zehn bis fünfzehn weniger als die Sixpacklager quer zur Fahrtrichtung, die zudem den Vorteil haben, daß man die Füße zum Gang hin überhängen lassen kann. Das Regal hingegen fordert jeden Pygmäen heraus. In meinem Kästchen aber, das der Schaffner mir anweist, liegt sowieso ein großer, schwitziger Mann und füllt es vollständig. Belegt, sagt der Schaffner und läßt mich stehen. Man rufe sich in Erinnerung, daß mich ein großer Rucksack rücklings überragt und mir ein nicht wirklich kleiner vor dem Bauch beutelt. Zudem trage ich eine Proviantplastiktüte im Stadium finaler Erosion in den Händen.
Der Mann in meinem Fach ist mir an Körpermasse und Entschlossenheit und olfaktorisch sowieso überlegen, keine Frage. Ich ziehe mich zurück – rückwärts, bebeutelt, wie ich bin, kann ich nicht wenden. Nun hat mir ja schon vor hundert Jahren irgendwo auf dem Balkan mal ein Schaffner ein Alternativbett angewiesen, als das meine belegt war, ich bin mir dementsprechend nicht sicher, ob ich den Zweikampf mit dem Fachbeleger aufnehmen oder mich woanders einsortieren lassen soll.
Schaffner, bei der nächsten Begegnung, zeigt keinerlei Mitleid mit dem doofen Touristen, es gilt hier offensichtlich: Every man for himself. Ich wende Plan B an: Ihm so lange im Weg zu sein, bis er gar nicht umhin kann, mich irgendwie fortzuschaffen.
Das geht mit zwei Rucksäcken und einer voluminösen Plastiktüte enorm gut. Ich postiere mich direkt vor seinem Kabäuschen. Als er das nächste Mal vorbei will, kommt er nicht durch. Sein Problem, nicht meines. Harr.
Er textet mich unwirsch zu, ich sage ihm lächelnd, daß ich kein Wort Russisch verstünde, der inhärente Widerspruch, ihm dies auf Russisch zu sagen, fällt ihm nicht auf. Will er hier in den nächsten 30 Stunden durch, muß er mich wohl oder übel irgendwo verstauen.
Er verdreht die Augen, schreitet zu meinem Regal und räumt den großen, schwitzigen Mann weg, der sich knurrend trollt. Dann gibt er mir Bettwäsche. Ich wirble meine Colts, beziehe das Matratzensäckchen und falte mich in mein Fach. Harr. Jetzt darüber nachzudenken, daß mich nichts vor dem freien Fall rettete, wenn ich mich im Schlaf auf 45 Zentimetern umzudrehen versuche, führte zu nichts.
Das Habitat I
Ich verbringe den Rest der Nacht, origamiartig zu einem kompakten Päckchen gefaltet, mit etwas Ähnlichem wie Schlaf. Vormittags dann stellt sich die Frage, was nun. Hinsetzen geht nicht, das können nur die Ebenerdigen. Wir im ersten Stock bleiben in unsere Fächer sortiert. Living in a box. Meine Leidensgenossen, soweit ich das überblicke, schaffen sich entweder ebenerdige Freunde an oder schlafen dreißig Stunden.
Da keiner mein Freund sein will und ich schüchtern bin, versuche ich es mit letzterem. Das aber kann nicht jeder, hier sehen wir einem der wirklich fundamentalen Unterschiede zwischen den Völkern ins Auge: Die einen können’s, die anderen nicht, und keiner kann’s besser als die Khmer.
Mit Ach und Krach schinde ich noch ein paar weitere Stunden bis zum frühen Nachmittag raus. Dann verlege ich mich auf’s Beobachten – zum Lesen sind die Schmerzen zu groß.
Muß auch nicht sein, es gibt genug zu gucken. Ein Karawane von Einzelhändlern zwängt sich durch den Gang, morgens schon kaufte ich einen Zentner Äpfel (die kleinste erwerbbare Packungsgröße, ich wollte bloß fünf, aber so läuft das nicht), jetzt folgen Frauen mit mehreren Kubikmetern Damenmode auf den Schultern, Herren mit Religionsbedarf (reges Interesse bei den zwei verschleierten Musliminen schräg links), diverse Spielzeug- und Modelbauanbieter, allerlei Kulinarisches in Körben. Einmal zieht gar eine dreiköpfige Boygroup vorbei, die auf traditionellen Instrumenten jedem Sixpack ein Lied aufspielt und mit einem Gebet abrundet. Ich hätte ihnen auch Geld gegeben, aber uns Regalinhabitanten schenken sie keine Beachtung. Bei den Zwischenhalten – und es gibt viele – wechseln Teile der Belegschaft. Während eines Stops stürmen alle hinaus auf den Bahnsteig und kaufen jeder drei Kürbisse. Als nachmittags die mittlere Sixpackpritsche direkt vor meiner Nase, die minütlich größer und ausladender erscheint, bis sie mir das Ausmaß eines Fußballfeldes vorgaukelt, über Stunden von einem Sechsjährigen okkupiert wird, empfinde ich Lebensraumneid. Hätte allerdings auch schlimmer kommen können – die obersten Pritschen dienen hier im nichtausverkauften Zug als Gepäckfächer, was ihre diversen Bewohner natürlich nicht davon abhält, sie trotzdem zu bewohnen. Und die haben nicht mal ein Matratzensäckchen. Man sollte nicht undankbar sein.
Das Habitat II
Trotz des ganzen Wuhlings bleibt der Zug erstaunlich sauber – der Schaffner fegt regelmäßig durch, und selbst das Klo wird instand gehalten, obgleich es sich um einen dieser unheiligen Hybriden aus Sitz- und Hocktoilette handelt, die beiderlei Nutzungsarten selbst einem ausgebildeten Yogi verunmöglichen. Sowohl die Sauberkeit unterscheidet diese Fahrt vom Kaminsky-Podolsky-Törn, als auch die Bettwäsche – wir haben alle Laken und Kissenbezüge in verschiedenen hellblauen Mustern, was es irgendwie unglaublich gemütlich macht. Sieht man mal von den unerträglichen Schmerzen ab.
Was bei Kaminsky-Podolsky – Kiew geschmeidiger lief, war die ausufernde Kommunikativität. Hier liege ich allein in meinem Regal und verstaube.
Es rettet mich eine polizeiliche Papierekontrolle am späten Nachmittag. Die beiden Bemützten bestaunen meinen Paß, ja, sage ich, dochdoch, Germania, Njemka. Deutsche Demokrrratische Rrrepublik, strahlt der eine; naja, so ähnlich, sage ich. Halten wir uns nicht mit Feinheiten auf. Drei Minuten später steht eine junge Frau vor meinem Kästchen. Ob ich Englisch spräche, ich bejahe; ob ich Deutsche sei; ich bejahe; man hätte mich für eine Russin gehalten, ob ich nicht runterkommen wollte und Tee trinken. Ich bejahe.
Von nun an läuft’s geschmeidig. Wobei ich nicht zu sagen vermag, ob man an Russen nicht interessiert ist oder sie nicht leiden kann – der Zug ist nahezu hundertprozentig kasachisch, und es wird auch nichts anderes gesprochen. Außer mit mir. An Deutschen ist man nämlich überaus interessiert. Zhongaya, so heißt die Frau, Anfang Dreißig ist sie, Englischlehrerin in Astana, quält sich mir zuliebe durch ihre recht fragilen Englischkenntnisse und dolmetscht all die neugierigen Fragen, die gleichzeitig mit jeder Menge Nahrungsmitteln auftauchen. Ich bekomme Grünen Tee – der doofe Tourist hat natürlich keine eigene Tasse dabei, obwohl er noch folgenlos dran dachte – und Kekse; wenigstens kann ich dafür einen kaum gebrauchten Zentner Äpfel in die Runde einbringen.
Auch der Schaffner, mittlerweile arg derangiert im Schießerrippunterhemd, hat sich zu uns gesellt. Wir klären via Zhongaya die Parameter ab. Ich bin 41, nicht verheiratet, keine Kinder. Sie ist 42, sagt Zhongaya und weist auf die dicke Dame unseres Grüppchens, die mit Enkeltochter und ihrem eigenen ca. achtjährigen ADS-Sohn alle Hände voll zu tun hat. Warum, werde ich gefragt; zum einen – nicht den richtigen Kerl gefunden, sage ich, zum anderen – reise und arbeite ich lieber als zu heiraten und Kinder zu kriegen. Man staunt und bedenkt dies. Sie staunen und bedenken, sagt Zhongaya; ist mir nicht neu, sage ich. Schießerrippschaffner springt auf und prescht davon; ist er jetzt los, mir schnellstmöglich einen Ehemann zu besorgen, frage ich und habe damit die Lacher auf meiner Seite. Ich hätte keine Probleme, sage ich zu Zhongaya, mir aus jedem von mir bereisten Land drei bis fünf potentielle Ehemänner als Souvenir mitzubringen, sie bezweifelt es nicht.
Eine Händlerin trägt meterlange Räucherfische vorbei, einer der Typen unserer kleinen Party kauft mehrere davon; er ist einunddreißig und hat morgen Geburtstag, da wird er Bier trinken, dazu braucht’s Räucherfisch, erklärt Zhongaya. Einen Fisch verzehren wir sogleich. Er ist irrwitzig salzig, ich esse ihn nur, weil’s lustig ist. Ein anderer Typ fragt mich, warum ich diese Omabrille trüge – eine John-Lennon-Gedächtnis-Nickelbrille –, wo ich doch eigentlich so hübsch wäre. Ich lasse ihm ausrichten, ich hasse es, Brille zu tragen und hätte eigentlich Kontaktlinsen, nur jetzt gerade wäre das unpraktisch. Hey, im Billyregal kann ich nicht mal meine Nasenflügel blähen, wie sollte ich da Kontaktlinsen rein- und rausprökeln, hm? Warum ich mir die Augen nicht lasern ließe; weil ich eine Memme sei, sage ich.
Zhongaya und ich unterhalten uns. Sie hat eine neunjährige Tochter, die aber bei der Großmutter in Taraz lebe, während Zhongaya in Astana arbeite. Astana ist sehr, sehr teuer, europäische Preise bei kasachischen Löhnen. Zhongaya wohnt in wechselnden Gemeinschaftswohnungen, gefielen ihr die Leute nicht, ziehe sie weiter, sie hätte halt als Kasachin die nomadischen Gene. Mit ihrem Job ist sie unzufrieden. Vorher habe sie als Dolmetscherin gearbeitet, wäre aber entlassen worden, und es würden bevorzugt entweder Männer eingestellt, bei denen keine Gefahr eines Ausfalls durch Schwangerschaft bestünde, oder junge, hübsche Model-Mädchen. Sie will versuchen, einen Einstieg in den TV-Journalismus zu finden, zehn Tage hat sie noch Zeit für Jobsuche, bevor ihr Urlaub zu Ende ist. Unendlich gerne würde sie auch reisen, sagt sie, es müsse sich eine Arbeit finden lassen, die ihr das Reisen ermögliche, unbedingt und bald, sie sei nicht mehr jung genug, noch lange zu warten.
Das Gespräch kommt auf Sprache. Zhongaya erzählt mir einiges über die Struktur des Kasachischen, und wie wichtig ihr ihre Sprache sei. Es verärgert sie, daß die Russischstämmigen selten Kasachisch lernten, während die Kasachischsprachigen fast alle Russisch könnten. Ich mag es, wenn jemand so begeistert von seiner Sprache schwärmt. Wir reden von der Umstellung vom Russischen auf’s Kasachische, die im Gange ist; wobei sie es wiederum schade fände, ginge das Russisch dabei perdü, eröffnet es doch weitreichende Chancen. Ich erzähle ihr, daß die Schweiz drei Sprachen habe, und wie neidisch ich darauf immer gewesen sei, wenn ich Schweizer traf, die fließend Deutsch, Französisch und Italienisch sprachen, plus natürlich Englisch. Sie findet das hochinteressant. Dann bietet sie mir Kartoffeln aus einem mitgeführten Topf an.
Seit sich meine deutsche Herkunft rumgesprochen hat, ist’s auch in der Raucherecke viel kommunikativer geworden, ich mache diverse Bekanntschaften und wir stoppeln Gespräche zusammen. Bei Anbruch des Abends fahren wir an der Küste des Balkhashsees vorbei, er ist groß wie ein Meer. Eine rote Sonne legt sich in der Steppe zum Schlafen nieder. Zhongaya liebt die Steppe, sie liebt ihr Land. Selbst die harten Winter in Astana mag sie, über die sonst unisono geflucht wird. Ich müsse wiederkommen, sagt sie, und die ländlichen Gebiete bereisen, der Leute wegen vor allem, sagt sie, die kasachischen Menschen seien warm und wundervoll. Das muß ich wohl, sage ich, und meine es ernst.
Es wird dunkel, und irgendwann, es hilft ja nichts, muß ich in mein Schächtelchen zurück. Wie gut, daß ich unter anderem deswegen reise, um’s mal ordentlich unbequem zu haben. Ich komme in dieser Hinsicht hier voll auf meine Kosten.
Als wir morgens kurz vor neun Astana erreichen, fehlen mir zwei bis drei Bandscheiben im Kreuzbereich. Könnte aber schlimmer sein – Economy auf Langstrecke fliegen zum Beispiel. Da gibt’s ja nicht mal Räucherfisch. Schweren Herzens lasse ich das nächste Buch zurück, Yu Huas „Brüder“, ein großartiger Roman. Ob er irgendwie durchkommen wird? Ich fragte Zhongaya, ob nicht einer ihrer Studenten vielleicht Deutsch lernte und das Buch haben wollte, aber sie verneinte. Die Brüder werden Platskartny in eine ungewisse Zukunft weiterreisen müssen. Ich helfe noch dabei, das ausufernde Gepäck der dicken Dame zum Fenster rauszureichen – zum Schluß wird noch das Kleinkind hinterhergeschoben –, verabschiede mich herzlich und humpele dann frohen Mutes Astana entgegen.
Dank Ihren witzigen, äußerst lebendig geschriebenen Schilderungen schaffe ich es auch, mich jeden Tag aufs Neue zur unsäglichen Tätigkeit des Korrigierens meiner Doktorarbeit (Fußnoten!!) zu motivieren, zu der ich seit ein paar Wochen verdammt bin.
Halten Sie durch (natürlich auch Ihr in Buchara so arg strapazierter Magen) und alles Gute!
Aus meiner Zeit in der Sowjetunion weiß ich, dass eine 5-Dollar Note dann und wann wahre Wunder wirken kann, wenn die Dienstleister keine Servicebereitschaft zeigen.
Ob sich daran seitdem viel geändert hat?
Viel Spaß auch weiterhin, und liebe Grüße von Mikel