Astana. Zunächst Kulturschock – alle fünf Minuten stößt man sich die Schienenbeine an öffentlichen Abfalleimern und Bankomaten, ich bin definitiv plötzlich ganz woanders. Es gibt Straßenschilder und Fußgängerampeln bei jeder Kreuzung, an denen die Autos tatsächlich halten. Sie halten sogar an Zebrastreifen. Verrückt!
Mein langer Weg vom Hotel ins neue architektonische Epizentrum führt mich zunächst durch die alte Mitte der Stadt. Auch diese nicht unmodern und durchaus mit baulichen Schrulligkeiten gespickt, aber ich weiß und ahne, da geht noch was. Ich überquere den Ishim-Fluß und wandere durch einen verdorrten Stadtpark, wo die Gebeine eines alten Vergnügungsparks in der Sonne bleichen. Man hat übrigens den Thermostaten gerade auf Mitteleuropa runtergedreht, die Temperaturen kratzen kaum an den Dreißigern, und es weht eine frische Brise.
Da sich der Stadtpark zieht, ein kleiner Einschub: Kasachstan hat das etwas unglückliche Länderkennzeichen KZ, weshalb als einer der daraus resultierenden Folgeschäden – neben den diversen durch .kz-Endung verunfallten Websites – die hiesige Ausgabe von „Deutschland sucht den Superstar“ den Namen
SuperStar KZ trägt, was ich mal kurz pietätsfrei lustig finden muß, ich verspreche dafür aber, keine
I love KZ-T-Shirts als Souvenir mitzubringen.
Über die struppigen Parkbüsche und -bäumchen ragen die ersten architektonischen Perlen: Ein gewaltiges Gebäude im lupenreinen Revival stalinscher Zuckerbäckergotik, den Moskauer „Sieben Schwestern“ nahezu ebenbürtig, dahinter eine Art großes, schiefes Zelt. Der Weg dorthin führt über den Boulevard der Bizarren Themenrestaurants: Ein Fachwerkbau neben einer Ritterburg neben einem Timurmausoleum neben einer ländlichen Windmühle neben etwas, was so in der freien Natur architektonisch gar nicht vorkommt. Bin begeistert!
Das große, schiefe Zelt stammt aus der Feder von Norman Foster, dem Astana des weiteren eine ägyptische Pyramide verdankt, den
Palace of Peace and Harmony. Es heißt Khan Shatyr und ist eine Shopping Mall. Hier haben wir sie dann wieder, die internationalen Konzernketten, bzw. hier bekommen wir sie, die meisten sind noch nicht eröffnet. Nun ist Khan Shatyr auch von innen nicht ganz uninteressant – hoch oben unter dem opalen Zeltdach fahren zum Beispiel recht putzig ein paar Achterbahnwägelchen herum – krankt aber daran, eine Shopping Mall zu sein, und ich hasse Shopping Malls aus tiefstem Herzen. Diese treibt mich zum Wahnsinn dadurch, daß ich eine Rolltreppe in die erste Etage nehme, ohne mich zu vergewissern, ob es auch eine zurück nach unten gibt, ich war einfach mal davon ausgegangen. Gibt’s nicht. Im Fahrstuhl schließen sich die Türen und gehen nicht wieder auf, ohne daß sich das Ding bewegen würde. Ich entrinne nur knapp und durch glückliche Fügungen dem Urteil Lebenslang in Khan Shatyr.
Dann aber. Aber hallo! Hier beginnt nämlich, nachdem man ein Prunktor durchschritten hat, der Nurzhol Boulevard, eine Sichtachsenorgie mit Khan Shatyr an einem und dem Präsidentenpalast am anderen Ende, dazwischen: Architektur. Mein lieber Herr Gesangsverein!
Vielleicht langt’s nach Pjöngjang und Ashgabat nur für Platz Drei, dieser jedoch ehrenvoll verdient. Es mangelt im direkten Ashgabatvergleich zwar an stringentem Wahnsinn, was aber nicht heißt, daß es an Wahnsinn mangelt, nur an Stringenz.
Man hat hier als architektonisches Konzept einfach ALLES hingebaut, und das direkt nebeneinander, in eklektischer Mischung zur futuristischen Fantasy-Postmoderne formiert. Gewellte und gedellte Glastürme stehen gegenüber einem blauweißgestreiften Bauklötzchenkomplex, daneben ein eleganter, sich oben auffächernder Monolith, daneben Wolkenkratzer, die in chinesischen Pagodendächern oder orientalischen Kuppeln enden. Von allem was dabei – es ist ziemlich lustig! Auch an ausladenden Springbrunnenensembles herrscht keine Knappheit, ebensowenig wie an Kunst im öffentlichen Raum – die Wahl besteht zwischen Abstraktem, mannsgroßen bunten Siegelringen oder Heckentieren. Blumenbeet-Musterarrangements liegen mittig im Nurzhol Boulevard wie Teppichläufer. Ich passiere zur Rechten etwas, das wie eine tarnoliv angemalte, eierförmige Radarkuppel aussieht, ich kann’s mir nicht wirklich erklären.
Auf halbem Weg steht das Bayterek, Astanas Wahrzeichen, es gleicht in etwa der Fußball-Worldcup-Trophäe. Man kann darin mit einem Fahrstuhl hochfahren und tut das natürlich auch. Im goldenen Ball stehend, läßt sich der ganze große Spielplatz von oben bestaunen. Erstaunlich zudem, wie hinter dem Nurzhol die Stadt plötzlich ratzfatz aufhört und nur noch Steppe herrscht. Auf einer Empore steht ein altarartiges Tischchen mit dem goldenen Handabdruck des Präsidenten, in den man die eigene Hand legen kann. Ein genauso verpflichtendes Foto-Motiv wie die vermeintlichen Schahschenkel in Teheran.
Im Gegensatz zu Ashgabat ist hier übrigens alles ziemlich belebt, und in den flankierenden Gebäuden gibt es durchaus Restaurants, Malls, Geschäfte. Die Überleitung zum Präsidentenpalast geschieht durch symmetrische, bogenförmige Komplexe mit riesenhaften Toren darin für die beiden Seitenstraßen des Nurzhols. Dahinter stehen rechts und links zwei große goldene Dinger, die wie Salz- und Pfefferstreuer aussehen. Ein weitläufiger Platz schließlich liegt vor dem blaubekuppelten Präsidentenpalast, hier wird an allen Ecken und Enden noch mächtig gebaut, zwei etwas alberne Ministeriumstürme mit goldenen Küppelchen zuoberst stehen allerdings schon und sorgen für mein Amüsemang.
Mit dem zufriedenen Gefühl architektonischer Sättigung wende ich mich spätnachmittags wieder nordwärts und laufe zurück, diesmal über eine Autobrücke, dann ein Stück am Ishim-Ufer entlang, wo abends der Astane gern promeniert. Ich dinniere in einem mir vom hiesigen Goethe-Institut empfohlenen, bezahlbaren Restaurant und lasse mir von scheherazadehaft verkleideten Kellnerinnen Plov servieren, wovon noch die Rede sein wird. Danach gehe ich ein weiteres Stündchen zum Hotel zurück, womit ich zehn Wanderstunden absolviert habe. Trotz Müdigkeit versuche ich kurz, mich ins hoteleigene
Free WiFi einzuklinken, das aber funktioniert alles ganz und gar nicht, ich verschieb’s auf morgen, da habe ich bis zur Zugabfahrt um 19:21 Zeit, mir alle möglichen Sorgen zu machen – Astana schließlich darf ich als nahezu zur Gänze abgewandert betrachten.