Meine Mitreisenden sind Ani und Alma, Mutter und Tochter, sie leben in China und sprechen deswegen nur Kasachisch und Chinesisch, kein Russisch. Doch da ward mir ja noch Amir vom Schicksal geschenkt, er kommt aus Almaty, studiert in Xi’an, und obwohl er sein Schulenglisch ziemlich vergessen hat, reicht’s locker für ein bißchen Smalltalk und gelegentliche Übersetzungshilfe. Von Ürümqi fliegt er nach Xi’an, erzählt er, einmal habe er’s mit dem Zug probiert, das aber sei die Hölle gewesen, jeweils drei Leute übereinander, keine Abteiltüren, furchtbar, das mache er nie wieder. Nehme an, er redet von der chinesischen Version des
Platskartny-Billyregals, die entweder härter ist oder er ist ein bißchen arg sensibel. Xi’an gefällt ihm gut, bloß das chinesische Essen vertrage er nicht, die Chinesen äßen zudem kein Fleisch, für ihn als Kasachen sei das hart. Das kann ich mir, nach dem Schaschlikexzess der letzten Wochen, zum einen gut vorstellen, zum anderen nehme ich an, seine Definition von „kein Fleisch essen“ geht konform mit der usbekischen Definition von „vegetarisch“, sobald die Suppe nur zur Hälfte aus Fleisch besteht.
Überhaupt ist der Zug voll von Studenten, die nach Xi’an fahren, das Semester beginnt jetzt, es erproben einige ihr Englisch an mir, vor allem in der Raucherecke entwickeln sich nette Girlparties. Eine Achtzehnjährige kann’s irgendwie nicht glauben, daß ich allein in der Welt rumreise, wiederholt fragt sie nach meinem Mann, menschliches bzw. weibliches Leben ohne, der Gedanke war ihr offenbar bislang fremd. Sie findet mich unheimlich
strong und macht große Augen. Frauen rauchen hier übrigens diese Ultraslim-Zigaretten, die ich zuvor für ausgestorben gehalten hatte. Für ein Hauptfach hat sich noch nicht entschieden, studiert aber gern in Xi’an, abgesehen vom Essen, ob ich eigentlich wüßte, daß die Chinesen kein Fleisch essen?
Ani und Alma, das Mutter-Tochter-Team, sind entzückend. Sie knuddeln ununterbrochen, spielen Karten, packen unendliche Mengen Lebensmittel aus ihrer Nachbarnationendisstasche, die das vierfache Volumen der meinigen hat, und füttern Amir und mich damit. Nachmittags wird gar eine spektakuläre Nußcremetorte aufgetischt – Ani hat heute Geburtstag. Ich singe zu beider Belustigung
Happy Birthday und wir machen Fotos miteinander.
Als ich mal zur Abwechslung alleine in der Raucherecke stehe und zum Fenster hinaussehe, vor dem die Steppe vorbeieilt, denke ich, daß ich bald in China bin. Plötzlich nimm dieser Gedanke eine ganz andere Klangfarbe an.
Es heißt ja immer, beim Flugreisen käme die Seele nicht mit, das Problem hatte ich nie, meine Seele, die ist auf Zack, es ist auf Langstreckenflügen eher mein Körper, der deutlich schwächelt. Aber vielleicht ist’s die Geschichte und die Geschichten, die nicht mitkommen. Als ich das letzte Mal nach Peking flog, stieg ich im modernen China aus, und das ist ja auch schon spannend genug, insbesondere für jemanden, der eher die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit präferiert.
Aber nun, als ich denke, ich fahre nach China, klingt in diesem Gedanken plötzlich ein ganz anderes China mit: Das quasimythische China als Sehnsuchtsort der Europäer. Als Inbegriff der Fremde, der Ferne, der Fremdartigkeit. Die Idee eines schillernden Großreiches, das sich uns entzieht. In einem meiner Lieblingskinderbücher,
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, fuhren die beiden von Lummerland nach China. Ich habe gehört, später wurde aus Politcal-Correctness-Gründen China in „Mandalay“ geändert, und finde das sehr bezeichnend, denn es geht ja gar nicht ums reale China – neben dem modernen und dem historischen China hat wohl immer auch ein imaginäres China die Träume und Ängste des Westens beflügelt. Ich erinnere mich an ein Gespräch zwischen Jim, Lukas und einem Chinesenjungen, es geht ums Essen, während sich Jim und Lukas vor den angebotenen chinesischen Speisen ekeln, dreht sich dem chinesischen Kind der Magen um beim Gedanken an Käse, das sei doch verschimmelte Milch. Das Fremde, manifestiert im Abendessen.
Unvergessen natürlich auch „Der blaue Lotos“,
Tim und Struppi in China – ich erwähnte ja bereits, daß ich mein Weltbild größtenteils den beiden verdanke. Gibt’s keine Opiumhöhlen und trägt man nicht ausreichend Zopf, werde ich enttäuscht sein.
Ich finde den Gedanken, gleichzeitig auch ein mythisches China zu erreichen, aufregend – ähnelt ein bißchen dem Seidenstraßengefühl in Buchara, dem Gefühl einer Verbindung zu realer Geschichte und Geschichte der Imagination. Es macht Spaß; und ich bin mir sicher, eine solche Empfindung wäre irgendwo an den Flughafen-Securitykontrollen verschütt gegangen. Reise ich per Bahn nach China, durch eine schier endlose Steppe, nur gelegentlich von Bergen abgegrenzt, nach China – wie cool ist das denn!
Um 16 Uhr erreichen wir die Grenze. Meine letzte Grenze. Damit ich was davon habe, gönnt man mir sie ausgiebig. Nämlich neun Stunden lang.
Zunächst sammeln die Kasachen die Päße ein, in Gestalt einer robusten Dame, die mich neugierig beäugt und sagt, ah, Sie sind der Tourist! Ich erwähnte es möglicherweise noch nicht, aber ich bin
der Tourist, sprich: der Einzige. Seit längerem. Ich muß überlegen, wann ich die letzten meiner Spezies sah. Die letzten Bahnreisenden fuhren die Strecke Buchara – Samarkand, die letzten Individualtouristen waren das Pärchen mit dem Zeltproblem in Taschkent, die letzte Reisegruppe die Wanderfranzosen ebendort. Verblüffend. Eigentlich ist unsereiner doch überall, und ausgerechnet in dieser hochspannenden und vergleichsweise einfach zu bereisenden Weltgegend ist keiner unterwegs, kaum zu glauben. Andererseits werde ich von den kasachischen Grenzlern derart ausgiebig bestaunt, ich bin wohl tatsächlich ein rares Gut.
Während der Tourist am einen Ende des Wagens raucht, verlassen alle Eingeborenen den Zug innerhalb von Sekunden am anderen, der Tourist merkt’s erst, als alle weg sind und der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hat. Dann ist er irritiert. Der Schaffner, der wie ein guter Kapitän das Schiff ebenfalls nicht verlassen hat, erklärt mir auf Russisch, es dauere eine Stunde und die anderen vertreten sich solange die Beine, aha, dann kommt also nur der Tourist in den Genuß, sich anzuschauen, wie das so geht, wenn die Fahrgestelle gewechselt werden. Es gilt nämlich fortan: Andere Gleisspurweite. Dementsprechend müssen unsere Waggons umgetopft werden.
Ein bißchen kann man’s beobachten. Die Waggons, voneinander getrennt, werden mit großen gelben Wagenhebern emporgewuchtet. Wow. Wie dann die neuen Fahrgestelle untergeschoben werden, sieht man leider nicht. Es erstrecken sich aber um uns herum mehrere Hektar Bahnräder bis zum Horizont, ein sonderbarer Anblick, insbesondere so allein im plötzlich verwaisten Zug, wo in den Abteilen alles stehen- und liegengelassen ward. Eigentlich ganz cool, denke ich; bis ich dann später, in Stunde ca. Acht, etwas klaustrophobisch werde und denke, ein Stündchen Beine vertreten wäre so schlecht auch nicht gewesen.
Nachdem wir auf neuen Rädern zurück zur Station gerollt sind, kommt der kasachische Zoll an Bord, guckt in unsere Taschen und den Touristen mal an. Dann, gegen acht Uhr, rollen wir ein Stück zu den Chinesen rüber. Jetzt gilt es, hurtig sich einen Platz in der Schlange vorm Klo zu erkämpfen, selbiges bleibt nämlich während der neun Stunden fast dauerhaft geschlossen. Weil ich das weiß, geht’s, außer natürlich der schweren Dehydration, wer heute was getrunken hätte, hätte das tief bereut.
Chinesische Grenzler. Stücker zwei bestaunen mich und meinen Paß. Tourist, fragt der eine, das aber bin ich von Stund an nicht mehr, ich habe, da ja vom Shanghaier Schriftstellerverband beruflich eingeladen, kein Touristenvisum. Für Geschäftsvisa nun gibt es diverse Kategorien, laut dem meinigen bin ich „F“, was das jedoch umgesetzt in Einreisekarten-Ankreuzkästchen bedeutet, weiß der Henker. Kein Tourist, versuche ich dem jungen Grenzler zu erklären, was er nicht begreift und ich will gerade ins Schwitzen geraten, wie ich die Sachlage, sollte ich sie erklären müssen, erkläre – ich habe zwar die Einladung vom Schriftstellerverband dabei, die aber ist auf Englisch. Da schiebt sich ein massiger Moppel in den Türrahmen, strahlt mit dem Gesicht eines Mondes, der einen richtig guten Tag hat und schmettert: Welcome to China!
Nachdem der Mond, der mit seinem Aufgang die Unterlinge schlicht durch Verdrängung beseitigt hat, die Deutsche bestaunt hat, schiebt er sich mit unseren Päßen davon, und dann dauert’s. Ab und zu kommen noch ein paar andere Grenzler, mal einen echten Deutschen zu sehen, dann kommt der Zoll und guckt in unsere Taschen. Wenigstens ein bißchen Abwechslung. In erster Linie lungern wir rum und warten. Wäre Zeit, was zu essen, ist aber schwer, ein Wurstbrot die ausgedörrte Kehle runterzuzwingen.
Die eigentliche Katastrophe jedoch bahnt sich an ganz anderer Front an: Ich liege in den letzten Seiten meines letzten Buches. Das heißt, es muß mir gelingen, in Ürümqi ein englisches Buch aufzutreiben, oder ich springe während der nächsten 36-Stunden-Bahnfahrt im Karree. Versuche, langsam zu lesen, weiß aber nicht recht, wie das geht.
Unsere Päße kehren gen Mitternacht zurück, Ani und Alma begeben sich sofort zu Bett – beide tragen herzige Pyjamas, Alma in Pink, Anis ist weiß mit roten Blümchen. Ich lese mit Stirnlampe weiter, es gibt zwar Leselampen, die aber sorgen eher für Atmosphäre als für Licht. Um eins schließlich setzt sich der Zug in Bewegung. Und damit bin ich jetzt tatsächlich: In China.