Weit gefehlt. Als nach dreieinhalb Stunden Schlaf der Schaffner uns weckt, hätte ich, wäre ich nicht zu müde dazu gewesen, ihn getötet noch bevor mir klar geworden war, daß ich schon wieder zwei Stunden verloren habe. Immer, wenn man sie mal wirklich braucht, die kleinen Biester. Mühselig ordne ich meinen Kopf und trinke einen Nescafé – soweit ist es inzwischen gekommen, ich paktiere aus lauter Not mit dem Feind. Mir wird bewußt, daß ich keinen müden Renminbi für ein Taxi habe – nehme an, während der Geldtauschgelegenheit an der Grenze hat der doofe Tourist stattdessen den Fahrgestelltausch bestaunt. Zwar gehe ich davon aus, in Ürümqi wird’s Geldautomaten galore geben, danach allerdings länger zu suchen unter voller Gepäcklast ist wenig spaßig.
Via Amir frage ich Ani und Alma, ob man am Bahnhof wechseln könne, nein, sagen sie und schreiben mir auf Chinesisch die Adresse einer Bank auf. Da sie jetzt aber angefangen haben, sich Sorgen um mich zu machen, machen sie sich die auch gründlich. Ob ich zehn Dollar hätte, fragt Ani und wechselt mir diese höchstpersönlich. Alma will die Hoteladresse sehen, die ich natürlich auf Chinesisch dabei habe, sie schreibt sie mir trotzdem noch mal auf, für alle Fälle. Dann instruiert man mich, niemals auf der Straße zu tauschen, dort kursiere hauptsächlich Falschgeld. Dann beratschlagt man und kommt zu dem Schluß, man könne mich keinesfalls allein einem mit Sicherheit betrügerischen Taxifahrer überantworten, unmöglich – ich solle gemeinsam mit Ani und Alma ein Taxi nehmen, sie brächten mich zum Hotel. Wer länger reist, muß wahrlich um seine Misanthropie bangen.
Wenigstens kann ich mich ein wenig revanchieren, in dem ich den beiden beim Tragen ihrer enormen Mengen Gepäcks helfe – ihre Nachbarnationendisstasche ist so schwer, als trügen sie darin ein bis zwei Familienangehörige herum. Ich verabschiede mich von Amir, dann wanken wir zu dritt dem Ausgang entgegen.
Und dort – Überraschung! Ich werde abgeholt! Wie schön, zum allerersten Mal auf dieser Reise an einem Bahnhof erwartet zu werden. Über allerlei Ecken des Goethe-Institutes bin ich an Kamili geraten und habe somit eine unglaublich nette Begleitung in Ürümqi, ich freue mich sehr.
Mal ganz abgesehen vom pragmatischen Aspekt – im Hotel, obgleich ein schniekes Businessetablissement, spricht keiner ein Wort Englisch. Und kein Wort heißt: Kein Wort. Zwar findet sich mein Name auf der Buchungsliste, bloß Geld von der Agentur gab’s noch nicht. Eine komplexe Situation. Die vier minderjährigen Rezeptionsmäuse sind auf’s Übermenschlichste herausgefordert und rufen erstmal telefonisch um Hilfe. Mir wird der Hörer weitergereicht, und, nu guck, der
Ansprechpartner vor Ort ist auf Deutsch ansprechbar: Oliver (touristisch tätige Chinesen tendieren zum englischen Alternativnamen) von der hiesigen Agentur verspricht, umgehend am Krisenherd einzutreffen und das Kind schon zu schaukeln.
Übergabe des Touristen an Oliver – Kamili muß vormittags zur Universität, wo er Vergleichende Sprachwissenschaften unterrichtet, ich muß, sobald ich ein Zimmer habe, erstmal ein Stündchen schlafen. Oliver ist ein freundlicher Jungspund, der sein Deutsch einem Studium in Bonn verdankt, er zahlt das Zimmer und fällt dann den Rezeptionsmäusen im Zehnminutentakt auf den Wecker, bis sie mein Zimmer freigeben – man müsse in China, erklärt er mir, immer drängen und drängeln, sonst wird das nie was. Na großartig – wenn ich neben handeln und bestechen noch was nicht kann, dann ist es drängeln.
Mein Zimmer bekomme ich, meine Fahrkarte allerdings existiert bislang nur als Intention. Es sei schwierig, derzeit Fahrkarten zu bekommen, sagt Oliver, Semesterbeginn, die Züge seien sehr ausgebucht. Ich weiß, sage ich, deswegen habe ich meinen Fahrkartenwunsch ja vor ca. drei Monaten kundgetan. Ich solle mir mal keine Sorgen machen, sagt Oliver, er riefe gegen 14 Uhr an, also mach ich mir mal keine Sorgen sondern stattdessen ein Nickerchen.
Gegen 14 Uhr gibt’s zwar immer noch kein Ticket aber nach wie vor Hoffnung, ich gehe erstmal Geld suchen, das problemlos aus dem Automaten kommt. (Weil im Kommentar von Bernd die Frage auftauchte, wie voluminös sich das nächste Zahlungsmittel gestalten mag: Für einen Euro gibt’s ca. acht Remmidemmis, eine Währung also, die sich problemlos in die Brieftasche schmiegt, es sind keinerlei Tragetüten vonnöten!) Dadurch ermuntert, suche ich die
Bank of China auf, ich habe nämlich noch Tenge zu tauschen. Was, wie man mir sagt, bzw. klarmacht, dort tatsächlich geht. In der Schalterhalle allerdings werde ich von zwei Heiopeis mit großen Batzen Geld in den Händen abgegriffen, die mich zum Partisanentauschgeschäft nach draußen vor die Tür geleiten.
Sind das jetzt die Falschgeldfredis? Allerdings, wer mit kiloweise Falschgeldbündeln in der Schalterhalle der
Bank of China herumwedelt, vor den Augen von etwa zwei Dutzend Wachmännern, bewiese irgendwie soviel Chuzpe, daß er meine ca. vierzig Euro in Tenge verdient hätte; außerdem bin ich natürlich neugierig, ob’s Chuzpe ist oder ein legitimes Geschäft, ich riskier’s also und tausche Tenge. No risk, no fun. Und da niemand in Folge meine Riminis beanstandet, bewiesen die Jungs wohl zwar keine Chuzpe, aber Gesetzestreue.
Kamili holt mich am Hotel ab und wir gehen in ein großes uigurisches Restaurant. Es ist das einzige, das tagsüber aufhat, es ist natürlich immer noch Ramadan, essen, trinken, rauchen darf der gläubige Muslim erst abends. Ich bin bekanntlich ja auch kein großer Mittagesser, ich müsse aber unbedingt uigurische Spezialitäten probieren, heißt es enthusiastisch. Das bedeutet, Überraschung, Plov. Der hier zwar phonetisch leicht verschoben klingt, sich aber ansonsten attraktiv wie immer präsentiert. Dazu Lamm. Ein so ganz frappierendes Novum ist das für mich nun nicht unbedingt. Die Unterhaltung aber ist umso anregender, und ich ernähre mich eh am liebsten von Gesprächen.
Nachmittags streife ich allein durch den uigurischen Teil der Stadt. Obwohl Uigurisch eine Turksprache ist und die Uiguren den anderen zentralasiatischen Völkern, wie am Plov unschwer zu erkennen, eng verwandt sind, wird’s interessanterweise in arabischer Schrift geschrieben. Sieht man genauer hin, haben die meisten Schilder neben dem Chinesischen kleine uigurische Untertitel – hurra, gleich zwei Zeichensysteme, die kein Mensch lesen kann. Jetzt noch Hindi dazu, und ich weiß so richtig Bescheid. Nein, halb so wild, englische Zweitbeschriftung ist mindestens ebenso häufig, dankenswerterweise auch bei den Straßenschildern.
Uiguren sollen derzeit etwa 50% der Bevölkerung in der Provinz Xinjiang stellen, in Ürümqi allerdings bloß noch um die 15%. Zentrum des uigurischen Viertels ist ein Komplex von leicht zentralasiatisch angehauchter Architektur mit Basaren und Moschee. Davor parken die Reisebusreihen der Touristengruppen – chinesische, der Tourismus aus dem Ausland sei nach den Unruhen 2009 weggebrochen, hat Oliver erzählt, es sähe aber so aus, als würde der Markt 2011 wieder ein bißchen in Schwung geraten. Vorerst bin ich mal wieder allein auf weiter Flur, und wenn noch eine weitere Sprache präsent ist, dann eher das Russische – Rußland und China sind sich hier nah, und die zwei Giganten kommen wohl auch prächtig ohne den Westen aus.
Die Basare liegen einander gegenüber und bestehen aus dreistöckigen Einkaufszentren, in denen Souvenirs feilgeboten werden, deren Anmutung und Farbskala mit der europäischen Geschmacksprägung eher wenig kompatibel sind. Neonpinke Bauchtanzkostüme kann einfach nicht jeder tragen, und für die mit schrillbunten Szenen glücklichen Uigurenfolkloretreibens bemalten Tambourine bin ich zu unmusikalisch. Die Gewürze sind schon interessanter, nur kochen kann ich halt auch nicht. Im Erdgeschoß allerdings findet sich ein großer
Carrefour-Supermarkt, wo ich mir endlich mal einen eigenen Zugfahrtbecher kaufen kann.
Zwischen den beiden Basaren ist ein kleiner Platz mit einem Turm, zwei Kamelskulpturen posieren geduldig mit Gruppenreisenden für’s Andenkenfoto und erinnern daran, daß Ürümqi einst eines der wichtigsten Seidenstraßenzentren war.
The Ethnic Culture Street erklärt ein Schild das Geschehen, und man fragt sich unwillkürlich, ob einer ethnischen Kultur, die es zu einer gleichnamigen Mall gebracht hat, nicht der Weg des Dodos vorgezeichnet ist. Einer der drei großen Uigurischdialekte soll schon nahezu verschwunden sein; ich empfinde ja für Sprachen ähnlich wie Greenpeace für Wale. Touristen mit Kameras queren den Platz, auf dem Weg von einem Basar in den zweiten. Die Kamele sind schon ganz blankgestreichelt. Überlebensgroß blickt über mir der Herr von
Kentucky Fried Chicken mit seinem sphinxhaften Lächeln auf die Welt.
Ich verlasse das abgesperrte Gehege – ein Ordner warf vorm Betreten einen flüchtigen Blick in meinen Rucksack –, und ziehe lieber eine große Runde um den Block. Irgendeiner Seidenstraßenromantikerwartung bin ich von vorneherein nicht aufgesessen, Ürümqi sieht ziemlich genau so aus, wie man sich eine chinesische Großstadt vorstellt – viele Hochhäuser in teils nüchternem, teils verspieltem Design, große Straßen, viele Menschen. Die uigurischen Frauen tragen häufig Kopftuch, ich sehe auch viel ernstlicher Verschleierte als in den Stans. Heirat zwischen Uiguren und Chinesen soll so gut wie gar nicht vorkommen, lese und höre ich. Die Straßen im Uigurenviertel sind gesäumt von winzigem Einzelhandel, die schickeren Geschäfte finden sich im chinesischen Zentrum, wo mein Hotel liegt, das werde ich dann morgen mal erkunden. Als der Abend dämmert – Fastenbrechen ist um 21:00 Pekingzeit –, sprießen in den Nebenstraßen plötzlich überall kleine Garküchen, es gibt zum Dinner Schaschlik an Plov. Riecht aber hervorragend.
Ich treffe Kamili und Frau am Eingang zum Ethniegelände wieder, und wir gehen Kaffee (!) trinken. Das ist das Gute an so einem Blog – man ist berechenbar. Nahtlos folgt das Abendessen, ich aber bin immer noch so zugeplovt und vollgelammt, mehr als Obstsalat kann und will ich nicht. Das Obst ist übrigens immer und überall ziemlich klasse – Pfirsiche, die nach Pfirsichen schmecken, ist mir in Deutschland seit Anfang der Neunziger nicht mehr passiert.
Danach ziehen wir über den Nachtmarkt. Jetzt, verdammt, müßte man hungrig sein. Hunderte kleiner Garküchen garen alles mögliche – links die Uiguren, rechts die Chinesen. Die Chinesen sind gemüseaffiner, die Uiguren essen naturgemäß kein Schwein. Ansonsten essen beide Seiten eigentlich alles, was so ein Tier hergibt. Ich sehe das mit Skepsis – ich probierte Leber und ekelte mich, ich probierte Niere und ekelte mich, ich probierte Hirn und ekelte mich, dann beschloß ich, jetzt könne mir auch der Rest des Gekröses gestohlen bleiben. Weder locken mich die großen Gedärmeknäuel noch die diversen Organe, von denen Kamili nicht mal mit Sicherheit sagen kann, wie sie heißen oder wo im Körper sie verortet sein mögen.
Die Nonfood-Sektion des Basares bietet Kleider, Krimskrams und einen Mann, der mit Highspeed-Rap eine Wunderhaarspange anpreist und deren Einsatzmöglichkeiten in einem derartigen Tempo an einem Kunstkopf demonstriert, daß der Eindruck entsteht, man sähe ihn im Fast-Forward-Modus. Ziemlich gute Show.
Gegenüber kaufe ich einen kleinen Kompaß – es scheint irgendwie Herbst geworden zu sein, der Himmel bedeckt, die Temperaturen gesunken, es ist kühl. Und ohne Sonne braucht’s einen Kompaß, sich in fremden Städten zu orientieren. Ich bin über die Herbstwerdung wenig erfreut, mir ist nach wie vor sommerlich zumute, ich will nicht, daß dieser Sommer bereits zuende geht. Ich hoffe, in Shanghai ist noch ein bißchen davon übrig.
Zurück im Hotel, um Mitternacht herum, frage ich an der Rezeption nach einer Nachricht für mich, Oliver wollte mir eine hinterlassen bezüglich meines Zugtickets. Ich versuche zu fragen. Keine Chance. Ich ziehe alle Register, ich zeige die Übersetzung von „Nachricht“ ins Chinesische vor, mittels meines Deutsch-Chinesisch-Wörterbuch-Apps. Als das zu nichts führt, versuche ich’s mit dem Englisch-Chinesisch-Wörterbuch-App, kann ja sein, daß ich mit dem Deutschen danach fragte, mal die Tagesschau sehen zu dürfen. Keine Reaktion. Ich führe ausführliche Pantominen auf, in dem ich einen Anruf inszeniere, eine Notiz mache, dann auf mich deute. Keine Reaktion. Die Rezeptionsmäuschen starren mich an wie Rehe den entgegenkommenden Scheinwerfer und tun mir eigentlich zu leid, das Thema weiterzuverfolgen, bloß muß ich das mit dem Ticket wirklich wissen. Neben den Mäuschen in roten Uniförmchen steht eine erwachsene Frau im Businesskostüm, die unser kommunikatives Scheitern beobachtet. Wahrscheinlich genießt sie die Show. Nach dem ich mich eine Viertelstunde abgehampelt habe, gebe ich auf, lächele, sage, okay, you don’t understand me – worauf die Kostümfrau sagt, you ask if message for you.
Ach. Na da bin ich aber perplex. Die interessante Frage hier ist natürlich: Hat sie eine Gastphobie oder eine Mitarbeiterinnenphobie? Aber man muß oder kann ja auch nicht immer alles verstehen. Ob ich eine Nachricht habe oder nicht, bleibt ungeklärt, ich hoffe aber mal, daß eine mögliche Gastphobie nicht so ausgeprägt ist, mir eine Nachricht zu verweigern. Man wird sehen, morgen früh. Hoffentlich. Vielleicht.
Du warst noch nicht in China in einem "einfachen" Hotel, richtig? Wunder dich nicht über nächtliche "Message" Anrufe. Eigentlich meinen sie "Massage" ...
Viel Spaß noch!