Ich spiele erstmal Kommunikationstaichi mit den Rezeptionsmäusen, denn als ich vom Frühstücksraumbesuch wieder hochfahre (hoch-, bzw. runter-, bzw., ganz schlecht, hoch-und-runterfahren kann dauern; für 22 Stockwerke und große Gästemengen gibt es nur zwei Fahrstühle, die dementsprechend stets in fast jeden Stockwerk halten, einmal brauche ich für runter-und-wieder-hoch gut dreißig Minuten) funktioniert meine Magnetkarte nicht mehr.
Nun habe ich noch kein Hotelzimmer bewohnt, in dem
nicht irgendwann die Magnetkarte schlappgemacht hätte, ein so häufiges Phänomen müßte selbst meinen Mäusen klarzumachen sein. Denke ich, wedele mit der Magnetkarte und führe eine kleine Tür-geht-nicht-auf-Pantomime vor. Doch mitnichten. Die Mäuse sind derart angststarr, daß sie nicht mal auf die Idee kommen, Verständigung könnte denkbar sein, sie greifen panisch zum Telefon und rufen Oliver an. Auha. Das kann ja lustig werden, wenn das hier immer so geschmeidig läuft mit der Verständigung.
Stelle dann aber gottlob draußen fest, die Mäuse sind nicht repräsentativ – überall sonst zeigen sich die Leute plietsch, gestikulieren, begreifen meine Gesten, sabbeln freundlich dabei, es läßt sich die Stadt auch sprachlos ziemlich gut navigieren. Zunächst laufe ich ein paar Blocks zu dem von
Lonely Planet avisierten Buchladen mit englischen Büchern und bange unterwegs. Wenn’s den nicht mehr gibt und ich keinen Lesestoff finde, mache ich ein aber sehr langes Gesicht.
Der Laden existiert, er richtet sich an englischlernende Chinesen und bietet hauptsächlich Lehrwerke, im ersten Stock aber gibt es auch ein bißchen Literatur. Begeistert steuere ich zunächst die zwei Regale mit
Chinese Classics an, hervorragend, all die Klassiker, über die ich so viel gelesen habe, denke ich gierig, muß dann jedoch feststellen, daß die Edition aus halbquadratmetergroßen Folianten besteht, pro Stück drei Kilo, und zudem macht’s keiner der Klassiker unter fünf Bänden. Ist mehr was für den stationären Leser. Tja. Dann mußte ich wohl nach Nordwestchina fahren, um endlich mal
Pride and Prejudice und
Jane Eyre zu lesen.
Immerhin, der Worst case ist somit abgewendet. Und am frühen Nachmittag ruft Oliver an: Er hätte ein Ticket. Es sei ein späterer Zug, um Mitternacht, und nur „Harte“, also Zweite Klasse, wofür er sich mit unermüdlichen Verbalkotaus entschuldigt, obgleich ich ihm versichere, das sei mir herzlich schnurz. Wußte ich doch nicht mal, daß ich auf Weiche Klasse gebucht war, und bin ich schließlich ein hartes Kekschen, wie der Anglophone so schön zu sagen pflegt. Hauptsache, ich komme nach Xi’an. Und auf diese Weise läßt sich immerhin überprüfen, ob sich das wirklich so grauenhaft gestaltet, wie unlängst von Amir beschworen.
Ich verblogge den Nachmittag und gehe abends ein bißchen bummeln, machen nämlich alle anderen auch. Vor dem Kino am Rondell der Minzhu Lu hat sich ein kulinarischer Vergnügungspark aus lauter kleinen Garküchen manifestiert, zuvor gab’s den noch nicht. Ich zweifle kurz daran, ob’s mir gelingen wird, das zu bedienen, aber Versuch macht kluch und rumschüchtern gildet nicht; ich bleibe also einfach mal an einem der Stände stehen und gucke was passiert.
Läuft gut. Die Hotelmäuschen sind in ihrer Begriffsstutzigkeit wahrlich nicht repräsentativ. Man versteht, daß ich was zu essen will und zu doof bin zu sprechen, gestisch unterbreitet man mir das Angebot unter besonderer Hervorhebung der unauffälligen Tierteile, da davon auszugehen ist, ich sei auch zu doof, was Richtiges zu essen, mit Eingeweiden, Klauen und Glibber. Recht hat man. Ich stimme zu und zeige noch auf diverses Gemüse, weil ich gerade überhaupt keine Ahnung habe, was mit meiner Wahl eigentlich geschehen wird, irgendwie gehe ich instinktiv von Schaschlik aus. Aber nein – man geleitet mich zu winzigen Tischchen mit noch winzigeren Höckerchen, die hinter dem Büdchen stehen (‘tschuldigung, aber die Szenerie verlangt hier einen massiven Einsatz von Diminutiven). In jede Tischplatte ist eine Bratschüssel eingelassen, die mit einer Propanflasche betrieben wird. Na, das ist ja mal spannend.
Ich bekomme einen persönlichen Bräter abgestellt. Ein junger Kerl in weiß-roter Schürze mit Mickey- und Minniemausapplikationen. Er hilft mir in mein Schürzchen, ebenfalls weiß-rot aber mit Bärchen, dann muß ich einen Sicherheitsabstand einnehmen, wegen Bratfettspritzgefahr. Handlanger tragen erschreckende Mengen Tiere und Pflanzen herbei, ohje, das alles habe ich bestellt? Und woher kriege ich jetzt auf der Stelle zehn Freunde, die mir essen helfen?
Doch siehe, im Bratverlauf, der von meinem Bratling hochkonzentriert und kunstvoll durchgeführt wird, schmort das ganze zur Übersichtlichkeit zusammen. Es riecht köstlich und die Performance ist 1A, leider mag der Bratling sich nicht fotografieren lassen, schade. Und dann darf ich essen.
Offenbarung. Die Wolken am Himmel reißen auf, ein Strahl gleißendes Licht fällt auf die Erde nieder und Gott persönlich reicht mir eine Gabel. Ich verscheuche die herumflatternden Putten und esse. Es schmeckt UNGLAUBLICH GUT, es schmeckt nach allem möglichen. Nicht, daß die Schaschlikstrecke unlecker war, aber man aß sein Tier halt eher pur. Hier jedoch brennt ein Feuerwerk von Geschmäckern und Gewürzen ab, es ist scharf, und zwar genau richtig scharf, so daß man nicht nur noch Schärfe schmeckt. Bin begeistert. Verzeih, Zentralasien, ich kann dich wahrlich verdammt gut leiden, aber mein Magen ist eher Chinese. Wenn wir denn die Gekrösefrage mal untern Tisch fallen lassen.
Wohlgesättigt gehe ich eine Runde um den Block, kaufe noch ein Törtchen im Törtchen- und Tortenladen, die übrigens gab’s in den Stans schon, Oasen poppig bunter, exzessiv verzierter Zuckerbäckerei, sowie Wasser und Instantnudeln für die Zugfahrt. Mein Ticket traf vorhin per Agenturmaus im Hotel ein, parallel zu einem Anruf Olivers: Zur Kompensation der erwartbaren psychischen und physischen Schäden durch die „Harte Klasse“ hat die Agentur die Kosten für den halben Extratag im Hotel übernommen; was mir doch alles sehr zupaß kommt.
Jetzt muß ich bloß noch zum Zug kommen. Kamili, der nachmittags kurz zum Abschiednehmen vorbeischaute (ich
hasse diese Abschiede!), kann mich nicht fahren, er muß seinen Vater vom Flughafen abholen, ich ließ mir von ihm auf Chinesisch „Bahnhof“ aufschreiben, und er instruierte langwierig den Parkwächter vorm Hotel, der jetzt natürlich längst Feierabend hat. Läuft trotzdem alles rund. Sein Kollege organisiert mir zwar kein Taxi, aber einen hippen Youngster mit Kleinwagen, der mir einen Preis am eher unteren Rand dessen macht, was ein Taxi kosten soll.
Bin überpünktlich am Bahnhof, was nicht ganz verkehrt ist, gilt es doch zu lernen, sich im chinesischen Schienenfernverkehr zurechtzufinden. Die Dinge haben sich drastisch verändert. Gab’s bislang eigentlich immer nur so ein, zwei Bahnsteige, wo mein Zug stets schon rumstand, erhebt sich hier ein Gebäude im Ausmaß des Ceausescupalastes vor mir. Alles Gepäck muß zunächst durchs Röntgengerät, selbst mein kleiner Bauchbeutel, eine gestrenge Uniformierte besteht darauf; einen Bildschirm, an dem jemand zusähe, gibt’s allerdings nicht, nehme an, es handelt sich eher um eine taoistische Exerzitie als um einen Securitycheck. Gefällt mir, ich bin ein Freund des Rituellen.
Im Inneren gibt’s drei Stockwerke und unglaublich viele Schilder, alle auf Chinesisch. Sieht gut aus. Tja. Zwar nutzt man dankenswerterweise arabische Zahlen und ich kenne meine Zugnummer, bloß ist ebendiese in fünf verschiedenen Richtungen angezeigt. Ich flippere ein bißchen durch’s Environment, pralle hier gegen eine Schaffeuse, die mich die Treppe hochweist, errege dort das Mitleid eines Bodenpflegers, der mir den richtigen Drall zu meinem Wartesaal gibt.
Der Wartesaal. Also, wenn die alle in diesen Zug wollen, wird die Lok schon in Xi’an einfahren bevor der letzte Wagen Ürümqi verlassen hat. Mir war schon klar, daß es VIELE Chinesen gibt, bloß daß die allesamt heute von Ürümqi nach Xi’an fahren, erstaunt mich dann doch.
Ich suche mir einen Platz und beobachte das Geschehen. Mir gegenüber sitzen zwei Uigurinnen, die mich hemmungslos bestaunen. Sie sehen ziemlich wild aus, als kämen sie direkt aus der Steppe, die Kregelere von beiden ist hinreißend, sie hat ein verwegenes Gesicht, trägt Zigeunerkleidungsmix am Leibe und flegelt sich sehr ungezogen in der Sitzreihe herum. Ihre Begleiterin ist behäbiger, und ein Jüngling gehört ebenso zur Partie wie viele, viele Plastiktüten und, abstrus, ein Schaufensterpuppentorso. Die drei starren mich gebannt an und knuspern, in Ermangelung von Popcorn, Sonnenblumenkerne.
Ansonsten ist ein breiter Bevölkerungsquerschnitt vertreten. Viele Studenten, Rollkoffer-Familien in Mittelklasseoutfits, Anzugträger, ärmliche Wanderarbeiter, Säcke oder gewaltige Jeansstofftaschen geschultert. Der Tourist findet wiederum im Singular statt.
Weil der Chinese selbst weiß, daß er drängelt, hat er pfiffige Antidrängelsysteme ausgetüftelt, ich werde noch vielen solchen begegnen. Weil der Chinese aber trotzdem drängelt, obwohl er das weiß, gibt’s zu jedem Antidrängelsystem ein halbes Dutzend Overridestrategien. Hier wartet man in Sitzreihen, die wie Pferche zur einen Seite betreten werden, während das andere Ende noch durch ein Gatter versperrt ist; dies öffnet sich nun zu gegebener Zeit auf den eigentlichen Gang zum Bahnsteig. Das Konzept ist, diese Gatter nacheinander zu öffnen, womit jeweils ein Sitzreihenpferch zur Zeit Zugang zum Eingang erhält.
Funktioniert natürlich gar nicht – kaum wird der erste Pferch geöffnet, springen ausnahmslos alle auf und preschen von ihrem zum offenen Pferch. Außer dem Touristen, der die Rennstrecke derart gespannt betrachtet, daß ihm erst spät auffällt, wie sich hinterrücks sämtliche Sitzreihen seiner Einheit bereits geleert haben.
Hat man erstmal die Zielgerade zum Bahnsteig erreicht, legt man den Weg – langer Gang, Rolltreppe runter, weiterer Gang, Bahnsteig – im gestreckten Galopp zurück. Für die Reisenden in der 3. Klasse, wo’s nur bedingt Sitzplatzreservierungen gibt, mag das Sinn machen, warum alle anderen auch rennen ist weniger einleuchtend, Leibesübungen? Na, ich kann mit meinem Gepäck – die Nachbarnationendisstasche prallgefüllt und steinschwer von Wasserflaschen und Proviant – eh nicht preschen, ich wanke also hinterdrein.
Hiermit tue ich kund: Amir ist eine Mimose. Das soll der Zug des Grauens sein, daß ich nicht lache, gut daß der zartbesaitete kleine Kerl nie versuchte, in seinem eigenen Land
Platskartny zu fahren. Die „Harte Klasse“ ist absolut prima. Nicht übermäßig behaglich, die robuste Pflegeleichtigkeit erinnert an ein Lazarett, die Liegen aber haben Menschenlänge und -breite, sind in Sixpacks angeordnet und besitzen halt bloß keine Abteiltüren, na und. Dafür gibt’s auf dem Gang, dort, wo Russen und Kasachen ihr Billyregal für weitere 27 Fahrgäste anschrauben, Klappsitze mit Tischchen, so daß auch für den oberpritschigen Reisenden ein ebenerdiges Leben optional ist. Und man muß mal festhalten: Die Chinesen haben die besten Zugbettdecken der Welt. Nix mit Wolldecke, richtig kuschlig-fluffiges Duvet in anständigem Bezug, da könnte das amerikanische Hotelzimmer noch viel von lernen.
Ich kuschele mich in ebendieses, es ist kühl, mir gegenüber hält es eine ältere Dame ebenso, ihre Enkelin schläft ganz oben, die Tochter irgendwo in der Nachbarschaft. Mittig ziehen zwei Studenten ein und hoch über mir ein unscheinbares junges Ding. Der Zug fährt mit fünfzehn Minuten Verspätung ab, endlich mal sowas wie Normalität, diese irrsinnige zentralasiatische Pünktlichkeit war ja geradezu unheimlich. Eine Stunde später, gegen eins, geht das Licht aus, und als ich mich anschicke zu schlafen, fällt mir auf: Kein Kadongkadong-Kadongkadong. Der Zug sirrt und kadongt nicht. Ich bin enttäuscht, ich vermisse das Schlaflied meiner Reisemelodie. So sirren wir nach Osten, durch China. Was dauern kann.