Wer denkt, in einem Zug, der heute nichts weiter vorhat als durch die Gegend zu fahren, könne man ausschlafen, der irrt. Ich zum Beispiel. Um Punkt sieben, ungeachtet der Tatsache, daß hier keiner vor frühestens eins, halb zwei ein Auge zutat, fanfaren die Lautsprecher los. Mit einem bunten Potpourri der schrecklichsten Melodien Chinas. Vielleicht ist’s auch ein Radiosender: Die erbärmlichsten Hits der Achtziger und Neunziger und das Schlimmste von Heute. Es dezibelt sich noch durch die solidesten Qualitätsohrstöpsel. Abgelöst wird das musikalische Inferno von Leuten, die schreien; mal schreien sie einzeln, mal im Dialog, dann halten sie kurz inne, damit das Publikum schreien kann. Ich halte das entweder für eine Art Comedy-Hörspiel oder irgendeine Show – China sucht den Superschreihals. Ich halte es für einen Grund, irgendwen zu töten. Bin ich auch sonst ein hartes Kekschen, Zwangsbeschallung macht mich mürb. Man hat aus gutem Grund mit sowas in Guantánamo gefoltert. Wahrscheinlich mit derselben CD.
Freitag, 27. August 2010
27. August. Durch China
Gottlob wird alle ca. zwei Stunden eine Krakeelpause eingelegt, ich hätte wohl sonst aus dem Zug springen müssen. Wäre möglicherweise einsam geworden, wir fahren den ganzen Tag durch Wüste, Steppe und jegliche Zwischenstadien. Nicht viel los dort draußen.
Hier drinnen auch nicht. Die Fahrt gestaltet sich zwar entspannt, da meine Abteilgenossen die Kunst des 36-Stunden-Durchschlafens beherrschen und somit nicht auf meiner Liege rumlungern, dafür aber fehlt das gesellige Miteinander. Nicht nur, was mich und meine Sondersprache angeht, auch untereinander sozialisiert man nicht. Keine rundumgeteilten Essereien, ich schleppe all meine auf Teilbarkeit angelegten Nahrungsmittel umsonst mit. Schade eigentlich. Wenn ich darüber nachdenke, hat mir alles in allem die Platskarty-Trubelzugfahrt im Billyregal nach Astana am Besten gefallen auf dieser Reise. Wer braucht schon Bandscheiben, wenn er stattdessen Spaß haben kann.
Mangels Sozialleben lese ich ein bißchen im Lonely Planet, bevor ich mich Jane Austen widmen werde. Dort steht, die chinesische sei eine lärmunempfindliche, wenn nicht gar lärmaffine Kultur. Sag bloß, denke ich, während ich unter dem Schreishowsequel ertaube.
Fasziniert von der mich umgebenden Sprache und ihrem elaborierten Zeichensystem lese ich darüber. Zwei- bis dreitausend Zeichen, heißt es, müsse man beherrschen, um einen Zeitungsartikel lesen zu können. Und da stellt sich doch brennend die Frage: Braucht man, um einen Zeitungsartikel zu schreiben, eine Tastatur mit zwei- bis dreitausend Tasten? Ich verstehe das alles nicht. Geheimnisvolles Asien.
Was ich stündlich besser verstehe, wenn ich der Landschaft draußen beim Vorbeifließen zusehe, ist, wie groß China ist. Nun ist dies natürlich eine Binsenweisheit und mutmaßlich das erste, was jedem zu China einfällt: Es ist groß. Und dennoch, ich gehe mit Juri aus Samarkand konform – zwischen theoretischem Wissen aus Medien und dem eigenen Erleben liegen Welten der Begreifensdimension. Es macht einen himmelweiten Unterschied, sich eine Landkarte anzusehen oder tagelang durch echtes Land zu fahren, das kein Ende nehmen will.
Mein ureigenstens Fazit lautet: China ist groß. In kursiv. Ein kleiner Unterschied für den Leser, ein gewaltiger Sprung für den Erkenntnishorizont der Reisenden.
Zweite Erkenntnis: China ist eine große Baustelle. Überall wird gebaut, in den Städten, den Dörfern, auf dem Land, selbst mitten in der Wüste. Straßen, Gebäude, Brücken, Kraftwerke, und alles andere auch. Wahrscheinlich ist China zudem ein großer Kraftakt.
Den Nachmittag verbringe ich mit Elizabeth und Mr. Darcy in englischen Gärten, sonderbare Lektüre, fährt man gerade durch chinesische Wüsten. Zum Abendbrot gieße ich mir mit Wasser, das die Schaffnerin regelmäßig aus einem großen Kessel in die abteileigenen Thermoskannen füllt, einen Instantnudeltopf auf. Das macht man hier so. Das machen alle so. Nachdem ich dies erst während der letzten Fahrt herausfand und prompt unter Nudelneid litt, habe ich diesmal einen eigenen Nudelkübel dabei. Kleinere Packungsgrößen sind nicht erhältlich, man stelle sich keineswegs eine der unsrigen Fünf-Minuten-Terrinen vor, sondern eben – einen Kübel. Ich schaffe mit Ach und Krach abends einen, meine Mitreisenden gabeln sich die Dinger im Zweistundentakt rein. Erstaunlich. Undenkbar. Geheimnisvolles Asien.
Die Schaffnerinnen übrigens sind streng, aber ungütig. Vorbei ist’s mit der Schnaffnerflüsterei, die Damen – es sind ausschließlich solche – tragen militärische Uniformen und drillen uns dementsprechend. Als ich gestern meinen Rucksack, in dem sich akuter Reisebedarf (Pullover, Buch, Zahnbürste etc.) sowie die Kamera befindet, unter das Abteiltischchen stellen wollte, da der Stauraum unter den Bänken bereits belegt war, wurde mir das allergrimmigst verboten, auch auf meiner eigenen Liege, wo jedermann Handtaschen und Futterbeutel türmt, durfte ich ihn nicht plazieren; ganz geheimnisvolles Asien.
Ich lese am Abend mit Stirnlampe, das Licht im Wagen reicht nicht, dabei sehe ich hier zum ersten Mal seit langem wieder ein paar Leute, die im Zug Bücher lesen, die studentische Jugend nämlich. Man hatte zwischenzeitlich den Eindruck bekommen, es handele sich um eine ausgestorbene Kulturtechnik, der einzige Leser in den Stans war ein Mann mit einem Okkultschmöker im Business-Shuttle nach Almaty. Komisch, daß die Chinesen zwar lesen, aber keine Beleuchtung kennen, bei der das möglich ist. Andererseits soll dieses Volk auch das Klopapier als erstes erfunden - und dann ganz schnell als erstes wieder vergessen haben. Warum auch immer. Und: Nur der Anfänger reist ohne.
Ich bette mich früh, eingedenk des Schreibeginns morgen um sieben. ETA Xi’an ist zwar erst um 9:45, aber ich nehme nicht an, das könnte den Lärmbeauftragten von der Erfüllung seiner Pflicht abhalten. Groß ist des Chinesen Leidensfähigkeit, so groß wie sein Land. Wahrscheinlich allerdings leidet nur der Tourist, und dem Chinesen macht so ein gutes Geschrei am frühen Morgen einfach bloß prächtige Laune. Geheimnisvolles usw.
Hier drinnen auch nicht. Die Fahrt gestaltet sich zwar entspannt, da meine Abteilgenossen die Kunst des 36-Stunden-Durchschlafens beherrschen und somit nicht auf meiner Liege rumlungern, dafür aber fehlt das gesellige Miteinander. Nicht nur, was mich und meine Sondersprache angeht, auch untereinander sozialisiert man nicht. Keine rundumgeteilten Essereien, ich schleppe all meine auf Teilbarkeit angelegten Nahrungsmittel umsonst mit. Schade eigentlich. Wenn ich darüber nachdenke, hat mir alles in allem die Platskarty-Trubelzugfahrt im Billyregal nach Astana am Besten gefallen auf dieser Reise. Wer braucht schon Bandscheiben, wenn er stattdessen Spaß haben kann.
Mangels Sozialleben lese ich ein bißchen im Lonely Planet, bevor ich mich Jane Austen widmen werde. Dort steht, die chinesische sei eine lärmunempfindliche, wenn nicht gar lärmaffine Kultur. Sag bloß, denke ich, während ich unter dem Schreishowsequel ertaube.
Fasziniert von der mich umgebenden Sprache und ihrem elaborierten Zeichensystem lese ich darüber. Zwei- bis dreitausend Zeichen, heißt es, müsse man beherrschen, um einen Zeitungsartikel lesen zu können. Und da stellt sich doch brennend die Frage: Braucht man, um einen Zeitungsartikel zu schreiben, eine Tastatur mit zwei- bis dreitausend Tasten? Ich verstehe das alles nicht. Geheimnisvolles Asien.
Was ich stündlich besser verstehe, wenn ich der Landschaft draußen beim Vorbeifließen zusehe, ist, wie groß China ist. Nun ist dies natürlich eine Binsenweisheit und mutmaßlich das erste, was jedem zu China einfällt: Es ist groß. Und dennoch, ich gehe mit Juri aus Samarkand konform – zwischen theoretischem Wissen aus Medien und dem eigenen Erleben liegen Welten der Begreifensdimension. Es macht einen himmelweiten Unterschied, sich eine Landkarte anzusehen oder tagelang durch echtes Land zu fahren, das kein Ende nehmen will.
Mein ureigenstens Fazit lautet: China ist groß. In kursiv. Ein kleiner Unterschied für den Leser, ein gewaltiger Sprung für den Erkenntnishorizont der Reisenden.
Zweite Erkenntnis: China ist eine große Baustelle. Überall wird gebaut, in den Städten, den Dörfern, auf dem Land, selbst mitten in der Wüste. Straßen, Gebäude, Brücken, Kraftwerke, und alles andere auch. Wahrscheinlich ist China zudem ein großer Kraftakt.
Den Nachmittag verbringe ich mit Elizabeth und Mr. Darcy in englischen Gärten, sonderbare Lektüre, fährt man gerade durch chinesische Wüsten. Zum Abendbrot gieße ich mir mit Wasser, das die Schaffnerin regelmäßig aus einem großen Kessel in die abteileigenen Thermoskannen füllt, einen Instantnudeltopf auf. Das macht man hier so. Das machen alle so. Nachdem ich dies erst während der letzten Fahrt herausfand und prompt unter Nudelneid litt, habe ich diesmal einen eigenen Nudelkübel dabei. Kleinere Packungsgrößen sind nicht erhältlich, man stelle sich keineswegs eine der unsrigen Fünf-Minuten-Terrinen vor, sondern eben – einen Kübel. Ich schaffe mit Ach und Krach abends einen, meine Mitreisenden gabeln sich die Dinger im Zweistundentakt rein. Erstaunlich. Undenkbar. Geheimnisvolles Asien.
Unerläßlicher regelmäßiger Nudeltopfverzehr
Die Schaffnerinnen übrigens sind streng, aber ungütig. Vorbei ist’s mit der Schnaffnerflüsterei, die Damen – es sind ausschließlich solche – tragen militärische Uniformen und drillen uns dementsprechend. Als ich gestern meinen Rucksack, in dem sich akuter Reisebedarf (Pullover, Buch, Zahnbürste etc.) sowie die Kamera befindet, unter das Abteiltischchen stellen wollte, da der Stauraum unter den Bänken bereits belegt war, wurde mir das allergrimmigst verboten, auch auf meiner eigenen Liege, wo jedermann Handtaschen und Futterbeutel türmt, durfte ich ihn nicht plazieren; ganz geheimnisvolles Asien.
Ich lese am Abend mit Stirnlampe, das Licht im Wagen reicht nicht, dabei sehe ich hier zum ersten Mal seit langem wieder ein paar Leute, die im Zug Bücher lesen, die studentische Jugend nämlich. Man hatte zwischenzeitlich den Eindruck bekommen, es handele sich um eine ausgestorbene Kulturtechnik, der einzige Leser in den Stans war ein Mann mit einem Okkultschmöker im Business-Shuttle nach Almaty. Komisch, daß die Chinesen zwar lesen, aber keine Beleuchtung kennen, bei der das möglich ist. Andererseits soll dieses Volk auch das Klopapier als erstes erfunden - und dann ganz schnell als erstes wieder vergessen haben. Warum auch immer. Und: Nur der Anfänger reist ohne.
Ich bette mich früh, eingedenk des Schreibeginns morgen um sieben. ETA Xi’an ist zwar erst um 9:45, aber ich nehme nicht an, das könnte den Lärmbeauftragten von der Erfüllung seiner Pflicht abhalten. Groß ist des Chinesen Leidensfähigkeit, so groß wie sein Land. Wahrscheinlich allerdings leidet nur der Tourist, und dem Chinesen macht so ein gutes Geschrei am frühen Morgen einfach bloß prächtige Laune. Geheimnisvolles usw.
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