Wiederum via’s Goethe-Institut bin ich zu fabelhaftem Geleit gekommen – Mensch, der gute Goethe, nicht nur ein prima Schriftsteller, sondern auch Chef des nettesten Reisebüros der Welt. Heute gibt’s Goethisten im Doppelpack: Udo, ein Exildeutscher, und Hu Fan, der über zehn Jahre in Deutschland gelebt hat und erst vor kurzem zurückkehrte – er sagt, er fühle sich bislang ebenfalls eher als Tourist. Zwei umwerfende Sympathen, und in ihrer Gegensätzlichkeit auch als Team irgendwie gut gecastet, macht man in Hollywood ja genauso, die Doppelpackheldendramaturgie lebt vom Kontrast der Protagonisten.
Man hat recherchiert und verspricht mir baldmöglichst Kaffee. Zunächst müssen wir eine Viertelstunde laufen, um ein Taxi zu bekommen, die Warteschlange am Taxistand vor dem Bahnhof reicht weit zurück in Zeit und Raum. Schon interessant, bedenkt man, wie sehr ein Großteil der Welt an einem Überangebot unterbeschäftiger Taxifahrer krankt. Ist aber kein Problem, das Laufen, wenn ich Frontbeutel und Nachbarnationendisstasche delegieren kann.
Ich restauriere ich mich kurz im Hotel – von den letzten neun Nächten der Reise verbringe ich sechs im Zug, da nimmt man schnell eine gewisse Gammeligkeit an. Peinlicherweise, selbst wenn ich geschrubbt und olfaktorisch neutral gekleidet bin, nützt das nur bedingt, inzwischen hat mein Tagesrucksack unheilig zu stinken begonnen, uuuärgh, und dagegen kann man wenig machen.
Hu Fan und Udo sind ein Dreamteam für den betreuungsbedürftigen Reisenden. Ersterer brieft mich eher in Sachen Historie (und davon hat Xi’an eine Menge), letzterer hat mich dank Blog profund verstanden, zeigt sich als kundiger Connaisseur des Absurden und fragt, ob ich Leute kennenlernen wolle: Einen bekannten Kalligraphen, einen wortspielenden Wahrsager, zudem bestellt Hu Fan zum Abendessen noch einen Schwung Dichter ein. Bin begeistert! Ich steh ja auf Menschen, und sie müssen nicht notwendigerweise aus Terrakotta sein. Achja, und ob ich erstmal einen Esel essen wolle.
Will ich. Aber nur einen kleinen, ich bin ja nicht so’n Mittagesser. Wir gehen in ein charmantes Nachbarschaftseselrestaurant. Ich möchte gerne Eselsteile, die nicht aus dem Allerinnersten stammen, und bekomme die auch, es gibt Eselsuppe und eine Art Eselwrap. An der Stirnwand hängt ein ausgestopfter Eselkopf und sieht eher skeptisch auf die Szenerie nieder. Eine bebilderte Speisekarte ihm zur Rechten weist als High-End-Spezialität Eselspenis aus, aber das macht selbst mir Kastrationsängste. Ist außerdem teuer.
Wir schmausen und schwatzen. Udo kommt aus Ostdeutschland, hat Sinologie studiert und sein ganzes Leben lang nach China gewollt, als er dann schließlich hier war, wollte er nie wieder weg, es hat sich tatsächlich als sein Traumland herausgestellt. Seine Frau stammt aus einem Dorf im Umland, die Schwiegereltern sind Bauern. Ich finde es toll, wie man sich instinktiv für etwas entscheiden kann, daß man noch gar nicht kennt, um dann von der Realität darin bestätigt zu werden. Hu Fan hat in Deutschland Philosophie und Theologie studiert, er ist katholisch in sechster Generation, sagt er, ich bin verblüfft, ich habe gar nicht gewußt, daß sowas hier vorkommt. Immer wieder merkt er an, wie schnell sich alles verändere, jedesmal, wenn er in den vergangenen dreizehn Jahren zu Besuch gewesen sei, habe er sich kaum noch ausgekannt. China ist nicht nur eine
große Baustelle, sondern auch eine
rasante.
Was dem Stadtbetrachter sofort auffällt ist: Es sieht hier so verdammt chinesisch aus, und damit meine ich nicht nagelneue Wolkenkratzer-Agglomerate, sondern zipflig geschwungene Pagodendächer, die, wie ich erfahre, typisch für die Tang-Dynastie sind. Und zwar nicht nur an historischen Gebäuden wie dem alten Trommel- bzw. Glockenturm oder den kleinen, ein- bis zweistöckigen Steinhäusern, die ganze Straßenzüge prägen, sondern auch an mehrstöckigen Neubauten. Ist mir schon vom Zug aus aufgefallen. Das sei Prinzip, erklärt mir Udo, es gäbe eine Vorschrift, Tang-Dächer zu bauen, er weist auf einen Gebäudekomplex an einer Kreuzung, dies sei der häßlichste Bau der Stadt gewesen, bis man die Eigentümer vor die Wahl gestellt hätte, entweder abzureißen oder tief in die Tang-Kiste zu greifen. Nun sieht’s etwas überkandidelt danach aus, als hätte ein Tang-Tempel beschlossen, eine Umschulung zum Bürohaus zu absolvieren.
Wer hätte sowas erwartet. Liest man doch immer wieder, wie der geschichtsbewußte Beobachter bedauert, daß im ganzen Land die historischen Viertel und Hutongs abgerissen werden – und hier baut man historisierend.
Ich finde das ja ganz lustig. Natürlich ist die Standardmeinung, historisierende Architektur sei Pfuibäh und des Teufels. Warum allerdings das eintönige Vollstellen der Welt mit inspirationsfreien, immergleichen Glas-Stahl-Klumpen, der Nichtphantasie der zehnten Generation von Epigonenepigonen entsprungen, irgendwie gesegneter sein soll, leuchtet mir nicht notwendigerweise ein. Ich glaube, wäre ich Architekt, ich könnte der Versuchung kaum wiederstehen, lupenreinen Jugendstil oder Gründerzeit zu bauen, einfach bloß weil’s so irrsinnig provokativ ist. Klar, man muß die Gegenwart nicht flächendeckend disneyesk weghistorisieren, aber so mal, so’n bißchen, mir macht’s Spaß. Und unbestreitbar haben die von den Steinhäusern gesäumten Straßen, hübsch verschattet von üppigen Baumreihen, Charme. Sie strahlen eine Ruhe aus, die ich im Zentrum einer großen Stadt nicht erwartet habe.
Die Historisiererei liegt natürlich daran, daß Xi’an unglaublich stolz auf seine mehrtausendjährige Geschichte ist. Hier liegt der Nukleus des chinesischen Reiches, unweit von Xi’an herrschte die Qin-Dynasty, während der die Grundsteine des vereinten Chinas gelegt wurden. Auch die Han, Sui und Tang residierten in dieser Stadt. Und zudem bin ich am End- bzw. Ausgangspunkt der Seidenstraße angelangt.
Wir bewundern die alte Stadtmauer beim Vorbeispazieren, schlendern durch liebliche Straßen, trinken den versprochenen Kaffee im Innenhof einer tanghaft anheimelnden Jugendherberge. Gegenüber ein Tempel, in dem sich, wie meist, Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus zu einer unentwirrbaren Melange mischen, das handhabt man hier traditionell immer schon so. Die Götter allerdings sind heute mit Tüchern verhängt. Da ich Götter sammele (so sind sie, die Atheisten), frage ich, ob ich noch einen bräuchte, ich habe schon Wanchang Dati daheim, von dem man mir in Taipeh sagte, der sei für Schriftsteller zuständig; Hu Fan und Udo raten mir aber zu einem Weiteren, der sich durch Hellebarde und Schriftrolle auszeichne, coole Kombi. Leider vergesse ich seinen Namen andauernd.
Das Namen- und Wörtermerken ist die Pest. Nun bin ich zwar kein Fremdsprachengenie, aber so ganz untalentiert auch wieder nicht. In Kambodscha konnte ich mir durchaus genug Khmer beibringen, um zurechtzukommen, in der Mongolei lernte ich gar mongolische Reitlieder. Aber das Chinesische gestaltet sich geradezu absurd schwer für mich. Normalerweise baue ich mir zum Vokabellernen Eselsbrücken, teils hochkomplexe Gebilde, aus Begriffen, die irgendwie ähnlich klingen (für das Russische Dostoprimetschatjelnost o.s.ä. brauche ich z. B. fünf: Dosto wie -jewski, Prime wie Primel, Tschad wie das Land, Jel wie Jelzin, Nost wie Glasnost), das ist mühsam aber funktioniert. Hier jedoch klingt nichts nach irgendwas mir Bekanntem. Nicht mal den Ausdruck für „Auf Wiedersehen“ kann ich behalten, und die Namen machen mich kirre, die sind einander alle viel zu ähnlich. Namen kann ich mir nicht mal auf Deutsch merken.
Selbst Pinyin, das Transskriptionssystem in lateinische Schrift, ist eine Herausforderung – ich empfinde es als zutiefst widernatürlich, ein „Q“ als „Tsch“ auszusprechen. Immerhin finde ich heraus, daß man als Journalist keine dreitausendtastige Computertastatur braucht, das wird nämlich via Pinyin abgewickelt.
Woran ich durchaus Freude haben kann, ist das ubiquitäre Chinglisch, so berühmt und berüchtigt, es werden mittlerweile ganze Romane darin verfaßt. Dabei handelt es sich um den zwar nur bedingt kompetenten, dafür aber umso kreativeren Einsatz von Englisch, der bisweilen Blüten von dadaistischer Poesie treibt. Wenn der Bankomat beispielsweise fragt, ob man einen Ratschlag ausgedruckt haben möchte. Oder in einer Therme neben Massagen und Fußbädern auch das Salzschubsen offeriert wird. Im Zug besaß einer der Studenten eine mit dekorativem, epischen Text bedruckte Sporttasche, der die hippe junge chinesische Generation pries, das hätte sich in jeder Anthologie avantgardistischer Lyrik abdrucken lassen.
Wir gehen Richtung Künstlerviertel, wo alle Erdgeschoßläden von Künstlern und Kunsthandwerkern bewohnt werden, die, die keinen Platz mehr hatten, betreiben Straßenstände. Es gibt Schnickschnack aller Couleur und jeden Ausmaßes, sowie sehr gute bis sehr schlechte Malerei und Unmengen Kalligraphie, wieder sowas Tolles, von dem ich rein gar nichts verstehe. Wenigstens Grasschrift lerne ich schnell zu erkennen, ist nicht so schwer, sieht aus wie Gras. Besonders gut gefällt mir übrigens die Erfindung von Melone am Stiel, das ist ja mal praktisch, so läßt sich
to go eine Frucht verzehren, bei der man sich sonst unweigerlich einsaut.
Ich bin bei all dem auf wahrlich beschämende Weise eingeladen, nichts, aber auch rein gar nichts darf ich selbst bezahlen, das ist ebenso nett wie mir ein bißchen peinlich, ich bekomme obendrein auch noch einen Glücksbuddha geschenkt, der die Liga meiner Amulette verstärkt.
Wir kehren in einer kleinen Ateliergalerie ein, der Künstler, Chen Shusheng, malt in einem zeichnerisch-kalligraphischen Gestus Portraits, sowohl von Berühmtheiten wie von einfachen Leuten auf dem Land. Wenn ich jetzt wüßte, wie ein vierteiliges Bild heißt, würde ich erwähnen, wie gut mir das ebensolche mit dem zahnlosen Greis gefällt, der sich eine Zigarette dreht, anzündet und raucht; da mir das aber peinlicherweise nicht einfällt, auch wenn’s sicher was mit Tetra- ist, will ich mein Unwissen hier nicht öffentlich zur Schau stellen. Hätte er doch bloß eine Sequenz weggelassen, dann wär’s ein Triptychon und ich hätte keine Probleme damit.
Wir setzen uns zur „Kungfu-Tee“-Zeremonie nieder, über einem Brett mit integriertem Ausguß werden winzige Teetäßchen in hochfrequenter Folge aufgegossen, dabei zieht der Tee nur kurz und ist stark, deshalb: Kungfu-Tee. Ob ich diesen irre starken Tee vertrage, fragt man mich irgendwann; grad mal so, sage ich, betrachte das farbige Wasser im Täßchen und denke, Jungs, ihr solltet mal bei mir auf einen Kaffee vorbeikommen. Ich sah Teeläden, in denen es origamihaft gefaltete Blüten aus Tee gibt, die im Wasser aufsprießen, sowie zu großen Reliefmedaillons gepreßten Tee, in der Art, wie man ihn früher gar als Zahlungsmittel verwendete. Sie kann einem ein wenig unheimlich werden, diese Teebesessenheit des Chinesen.
In die Runde gesellt sich Xiao Mo, der Kalligraphenfreund von Udo, und dann schneit noch unvermutet ein sehr berühmter Schriftsteller und Opernregisseur vorbei, der mir zwei seiner Bücher signiert und schenkt. Die Übergabe wird im Staatsaktstyle fotografisch festgehalten. Es sei eine große Ehre, erklärt man, normalerweise sei Herr Tan Shaowen nicht so freigebig mit Büchern und Autogrammen. Verdammt. Sie sehen schön aus, die Bücher, und mehr kann ich dazu natürlich nicht sagen. Und das, wo ich auf dieser Reise jedes Gramm spare. Daß ich überhaupt reise, liegt übrigens nicht daran, daß ich das gern täte, ich hasse Reisen, bloß ist bei mir daheim alles derart voller Bücher, für mich ist in der Wohnung einfach kein Platz mehr.
Nun sind mir Bücher ohnehin heilig, ganz besonders heilig aber sind mir vom Autor signierte Bücher. Welch Dilemma. Immerhin kann mir Hu Fan sagen, wovon die Bücher ungefähr handeln, das eine ist ein Roman, das andere befaßt sich mit Oper. Wie ich all diese Weißen Teufel beneide, die fließend Chinesisch sprechen und von denen ich vielen begegnen werde. Ich hingegen kann mir ja nicht mal den Ausdruck für „Weißer Teufel“ merken, obwohl ich’s versuche.
Wir plaudern uns beim Tee fest, dann ziehen wir ein Stück weiter zu Xiao Mos Atelier und plaudern uns dort beim Tee fest. Der Chinese sei ein großer Rumlungerer und Plauderer, erklärt mir Udo, ich finde das hochsympathisch. Auch vor den Läden sieht man allerortens Rumlungerer und Plauderer, lungert und plaudert er nicht, der Chinese, ist er mit Feuereifer in irgendein Spiel verstrickt: Karten, chinesisches Schach, Mah-Jongg.
Es entbrennt eine hitzige Debatte darüber, wie mein künftiger chinesischer Name zu lauten hätte, es werde in diesen Kreisen mit Leidenschaft stundenlang über Kunst und Poesie und dergleichen debattiert, sagt Udo. Wie sich die Chinesen anglizierte Vornamen zulegen, so müssen ausländische Namen eingechinesischt werden. Dabei gilt es, sich an den Klang möglichst stark anzulehnen, dabei aber einen Namen mit einer schönen Bedeutung zu kreieren. Bedeutungslose Namen gibt es anscheinend nicht. Ein Nachname ist schnell gefunden, Yü, angelehnt an den Klang von „Ü“ in Uebel, ein geläufiger Familienname. Im Falle meines Vornamens schwankt man zwischen
Dina und
Tschina, Hu Fan schließlich findet die Lösung, womit ich nun so ähnlich heiße wie „Herz einer Blume, das wie Weidenzweige im Wind schlackert“ – hey, that’s me, präziser hätte ich’s selbst nicht ausdrücken können! Udo heißt
Fünf-Scheffel-Getreide, was wesentlich weniger prosaisch ist, als es klingt, es entstammt der Geschichte eines Weisens, der selbst für großen Reichtum nicht käuflich war. Muß man wissen, weiß man auch. Ich glaube, China ist auch von
großer Komplexität.
Herr Xiao Mo kalligraphiert mir meinen neuen Namen. Es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen, die Schriftzeichen entstehen aus einem Ausdruck, an dem der ganze Körper beteiligt ist. Und weil ich zum ersten Mal hier bin, müsse er mir eine weitere Kalligraphie schenken, ich solle mir einen Begriff wünschen. „Sehnsucht“, sage ich spontan, eines meiner Lieblingsworte. Die Debatte darüber ist noch komplexer. Ich würde sie wirklich herausfordern, sagt man mir, und entbietet mir schließlich einen Spruch, nachdem man in der Wüste an sauren Pflaumensaft denken müsse, um den Speichelfluß anzuregen und den Speichel schlucken zu können, schon hätte man keinen Durst mehr. Hm. Saurer Pflaumensaft ist durchaus lecker, ich probierte vorhin welchen vom Straßenstand, und doch, naja. Es wird eine Alternative ausgetüftelt: Auf den Berg steigen, um den Mond zu umarmen. Oder so ähnlich. Na, das ist doch mal wunderbar! Herr Xiao kalligraphiert mir dies, und dann muß mit genügend Vorlauf der Abschied eingeleitet werden, die Zeit schwindet mit dem Tee, und um sieben sind wir mit den Lyrikern zum Essen verabredet.
Wir schlendern zum Treffpunkt durch die Basargassen des alten Muslimviertels, die Moschee, die architektonisch aufs Haar einem Tempel gleicht, ist leider schon geschlossen, und für die eigentlichen alten Tempel haben wir keine Zeit mehr. Aber man kann halt nicht alles haben. Wir begucken ein bißchen das Warenangebot am Wegesrand, von nachgemachten Markenklamotten bis nachgemachte Antiquitäten sowie natürlich allerlei Kunsthandwerk und Seide, biegen dann in eine Eßstraße ein.
Wow. Hier müßte man sich mal von Anfang bis Ende durchessen können. Leider wird man schon von den Gerüchen satt, und wir sind ja erst auf dem Weg zum eigentlichen Abendbrot. Verdammt. Was es nicht alles gibt. Walnüsse rösten in heißem Sand, aus gedünstetem Reis entsteht eine süße Leckerei am Stiel, Tofuvariationen, stinkend oder geruchsneutral, Spießchen, Schüsselchen, zumindest ein Persimonenküchlein muß ich probieren, es ist köstlich, ich wußte bislang nicht mal, was eine Persimone ist. Und wer dann gar nichts mehr reinkriegt, kann sich noch eine Plastikminiaturenauswahl chinesischer Tellergerichte als Schlüsselanhänger zulegen.
Das eigentliche Essen findet in einem gemäßigt-muslimischen Restaurant statt – gemäßigt heißt, es gibt Bier. Was wir ausgiebig in Anspruch nehmen. „Wir“ heißt drei junge Lyriker, die leider kein Englisch sprechen, eine Expat-Österreicherin namens Tatjana, plus unser Triumvirat. Dann beginnt das Mahl mit – Schaschlik. Und, was soll ich sagen: Die können hier Schaschlik, aber Hallo. Das Tier ist mit raffinierten Gewürzen getuned, und darauf folgen Schlag auf Schlag Dutzende von Gerichten, die auf der runden Drehplatte in der Mitte des Tisches zirkulieren. Ich mache große Augen bzw. Geschmacksknospen. Kann mich nicht erinnern, je so aufregend gegessen zu haben. Ist wie mit den Worten, nichts ähnelt irgendwas, das ich kenne. Es gibt in Honig eingelegten Knoblauch auf einem Peripherwürzschälchen, der überhaupt nicht knoblauchhaft schmeckt. Das meiste ist scharf, in ungeahnten Varianten von „scharf“, die anderen Nuancen herauszulocken, nicht zu überdecken. Stelle fest, daß ich total auf frischen Koriander stehe, war mir nicht bewußt. Kein Wunder, daß die Chinesen dauernd Essen gehen – trifft man verschiedene Freunde an einem Tag, täte man das auch mehrfach, sagt Udo. Schätze, das Problem mit meinem zu weit gewordenen Gürtel, das mich seit einiger Zeit beschäftigt, ohne daß es mir gelungen wäre, in Usbeki- oder Kasachstan einen Lochmacher aufzutreiben, kann ich hier auf natürliche Weise lösen, in dem ich mich einfach fettfreße.
Ein chinesisches Mahl gilt übrigens nur dann als gelungen, wenn es viel zu viel gibt. Es gibt viel zu viel. Als das Ende schon nah scheint, werden nochmal Schaschlikstapel geliefert, O Gott, geht’s jetzt etwa von vorne los?
Nein, tut es nicht. Bei einem gelungenen chinesischen Mahl muß viel übrig bleiben. Wir brechen auf, ein paar Blocks weiter in die Kneipenstraße, schieben draußen zwei Tische zusammen – es ist warm, in Xi’an habe ich den Sommer wieder eingeholt – und bestellen Bier. Viel Bier. Hu Fan erbarmt sich und übersetzt stundenlang ein Gespräch zwischen mir und den Dichtern, es geht um Literatur, in allen Aspekten. Wir vergleichen das Verlagswesen und die Marktmechanismen – auch hier ist Lyrik viel schwerverkäuflicher als Prosa, alle drei schreiben danebst Kurzgeschichten und Romane. Wir befragen einander darüber, warum wir schreiben und was wir mit unserer Literatur wollen, wir reden über die Zensur, über Kunstbegriffe und -bedeutung, über Lesungen und Präsentation von Literatur und wie man damit Leute erreichen kann, die ins reine Entertainment abzudriften drohen. Ein Gespräch mit langen Delays, in denen Hu Fan übersetzt. In diesen Pausen unterhalte ich mich mit Udo und Tatjana zur Linken, auch Herr Xiao Mo hat sich zu uns gesellt, später schaut noch ein junger deutscher Physiker vorbei, nur der Wahrsager ist leider verhindert.
Tatjana hat ebenfalls Interessantes zu erzählen. Sie braucht ab und zu mal eine Chinapause, sagt sie. Nerven täte zum Beispiel die Art und Weise, wie eine Frau als unvollständig gesehen werde ohne Mann. Man habe sie schon mit achtzigjährigen Greisen verkuppeln wollen, bloß damit sie nicht unbemannt sei. Einige Dinge aber änderten sich. Anfangs seien sie und ihre westlichen Arbeitskollegen auf Skepsis oder gar Ablehnung gestoßen, wenn sie über Ferienreisen redeten, man reiste nicht oder wenn, dann keineswegs ohne Gruppe. Mehr und mehr nun probierten jetzt auch die chinesischen Kollegen individuelles Reisen aus und kehrten begeistert von Campingwochenenden heim, die sie mit Zelt und Freunden in den Bergen verbracht hätten. Dann geht das Dichtergespräch zu meiner Rechten in die nächste Runde. Eine Konversation wie ein Tennisspiel.
Wir haben mächtig viel Spaß und nicht weniger Bier. Irgendwann gegen zwei allerdings meldet sich die Stimme der Vernunft mit letzter Kraft lallend zu Wort: Udo, Hu Fan und ich wollen morgen zur Terracottaarmee, dafür müssen wir uns um neun im Hotel treffen, und wenn wir nicht aufpassen, ist das schon gleich.
Der große Abschied ist unumgänglich. Von Yi Sha, einem der Lyriker, bekomme ich seinen Gedichtband signiert und geschenkt. Er hat uns zudem Fotokopien mit Übersetzungen seiner Gedichte ins Deutsche mitgebracht, sie sind toll. Verdammt, schon wieder ein so schönes Buch, daß ich nicht lesen kann, man mag schier verzweifeln.
Im Hotel torkel ich ohne viel Federlesen ins Bett. Verliere eine Viertelstunde, bis ich die Schaltelemente im Nachttisch begriffen habe und das Licht löschen kann (nicht, daß da viel zu löschen wäre), schlafe dann schleunigst noch fünf Stunden, muß ja morgen Weltkulturerbeweltwunder ins Auge sehen. Merke beim Einschlafen noch, daß ich drauf und dran bin, mich in Xi’an zu verknallen.