Stehe tatsächlich um 7:45 am Hauptbahnhof, in Begleitung von Freunden, Familie, Pressevertretern und geistlichem Beistand. Wir trinken standesgemäß auf dem Bahnhofsvorplatz wie die anderen Asozialen, um Leute wie uns zu vergrämen beschallt man das hier mit klassischer Musik. Wir trinken Champagner aus Pappbechern, die Freundin Kibermanis von einer Kaffeebude geklaut hat, der Geistliche stimmt ebenso fromme wie minderharmonische Choräle an, zur spirituellen Erbauung: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Welt hinaus“.
Mich schickt er übrigens mit Iranvisum. Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Mittwoch bei persönlicher Vorsprache ward mein Paß aufgefunden und mir das Visum zumindest mündlich zugesagt, gestern nachmittag konnte ich, Last-Minute-Women, den Paß bei der Agentur abholen. Habe sämtliche Visa, habe mein Geraffel organisiert und gepackt, habe keine Stunde geschlafen, da ich die letzten Abschiedsfeierlichkeiten erst zwei Stunden vor Zugabfahrt verließ.
Allein deswegen sollte man ab und an mal auf ernstliche Fahrt gehen, um in den Genuß der Abschiede zu kommen. Feiere seit einer Woche ringsum das große Adieu, bin von den vielen innigen Umarmungen schon ganz abgerieben. Ziehe einen schweren Extrakoffer hinter mir her, voll mit Geschenken und Talismanen. Sorgenpüppchen, selbstgebastelte Medaillons und Amulette, Antiangstmantras, Taschenmonster und -meerschweine, eine mit guten Wünschen signierte Packung Zigaretten. Die gestrigen Zeremonien – inklusive eines Abschiedsfrühstückspicknick mit Portugiesentörtchen um zwei Uhr morgens – evolvierten aus einer Milonga in meinem Lieblingstangoschuppen, letzten Freitag saß ich mit meiner Literatenmischpoke bis zum Morgengrauen bei kaltem Bier auf warmem Dach, vorgestern ging ich innerfamiliär essen, und die Mutter vom sehr netten Menschen aus Teheraner Reisebüro rief auch noch mal an, um mir alles Gute zu wünschen. Wird Zeit, daß ich loskomme, sonst werde ich vor tiefer Rührung noch ganz malade.
Ich komme los. Mit halbstündiger Verspätung schnappen die Zugtüren zu und ich bin unterwegs. Wird wahrscheinlich bis ca. Istanbul dauern, daß ich mir das alles selbst so richtig glaube.
Die Konstrukteure moderner Züge verstehen nichts vom Reisen. Haben sie doch das Abteil, den Nukleus des Bahnfahrens abgeschafft. Im Abteil entwickelten sich Kommunikation und Interaktion zwischen den Reisenden naturgegeben und organisch. Im Großraumabteil hingegen starren alle in dieselbe Richtung (und zwar
immer gegen die Fahrtrichtung, es gehört zu den großen unerforschten Geheimnissen der Welt oder zumindest des Fernverkehrs, warum es noch nie wer geschafft hat, die Dinger richtigrum anzukoppeln).
Von Klimaanlagen verstehen sie übrigens auch nichts. Wer in den letzten Tagen nicht selbst per Bahn unterwegs war, dem sei gesagt: Ja. Es
ist genauso schlimm, wie’s in den Zeitungen beschrieben wurde. Insofern wär’s mit Kommunikation eh Essig, ein jeder ist mit dem eigenen Überleben bei 50° beschäftigt, der EC-Großraumwagen ähnelt einem Lazarett. In Tschechien überholen uns bisweilen Züge osteuropäischer Provenienz, deren Erbauer noch über das uralte Geheimwissen um die ausgestorbene Kulturtechnik des FENSTER AUF verfügten. Glückliche Reisende halten die rosigen Wangen aus den Fenstern, Fahrtwind spielt in ihren Locken, ihre Brustkörbe sind gebläht von lupenreinem O2. Wir schluchzen neidisch und winken mit den Nothämmerchen.
Die Tortur dauert bis Budapest, wo unser mobiler Toaster nach Station u. a. in Dresden, Bratislava und einem Ort, der ausschließlich aus Konsonanten besteht, gen Mitternacht mit einer Stunde Verspätung eintrifft, macht aber nichts, der Zug nach Belgrad hat zweieinhalb, das paßt schon. Zwei Sofia-Kurswagen hängen am Belgradzug und sind von ergreifender Abgerocktheit. In einer früheren Inkarnation scheinen sie für die Deutsche Bundesbahn gefahren zu sein, deutschsprachige Beschilderung, und ich vermeine, das Schlafwagendesign aus meiner frühesten Kindheit zu erinnern. Ungefähr dieselbe Epoche sah auch die letzte Putzkolonne, die sanitären Anlagen sind nachgerade morbide. Der grantige Bulgare aber, der etwas igorhaft über Wagen 418 herrscht, erweist sich als gar nicht so grantig, pflückt mich aus dem mit drei Frauen hoffnungslos verstopften Abteil und weist mir ein eigenes zu. Ich mache darin jubilierend das FENSTER AUF, und sobald wir losfahren, wehen durch den ganzen Waggon linde Lüfte, es ist ein Fest.
Du fehlst mir jetzt schon und ich hoffe, dass Dir der pixelige Talisman gute Dienste erweist! Werde Dein Blog mit Spannung und lautem Gelächter weiter verfolgen.
Grüße aus der vermeintlichen Zivilisation,
Wiebste
(Gerne auch mehr übers Essen - ich erschließe mir alles grundsätzlich über den Bauch)