Als mutmaßlich einzige Zugreisende der Welt mit Jetlag beginne ich meine Tage bei deren Anbruch. Ich erwache mit dem Himmel über der Stadt, der sich an mich schmiegt, gottlob ist man mit der Kulturtechnik des FENSTER AUF hier vertraut, sonst hätte ich ein zweimonatiges Klaustrophobieproblem am Hals. So aber habe ich nur einen Haufen Himmel am Hals, und das ist mir grad recht. Ich arbeite mit erschreckender Disziplin bis nachmittags, dann erkunde ich die Stadt.
Mein Wohnviertel, Jing’an, zeigt sich bezaubernd – ein Hochhaus-Quartier geht über zu kleinen Straßen entlang zwei- bis dreistöckiger Gebäude, in denen sich allerhand Mikroeinzelhandel tummelt, mit feschen Klamotten ebenso wie mit staubigem Krimskrams. Rustikale Kleinstbrätereien sind vertreten und auch ein paar hippe Cafés. Ein Spaß zum Spazieren und prächtige Lebensinfrastruktur gleichermaßen – an Tag Zwei treibe ich beim Krimskramshöker zwischen Staub und Gilb eine prima Leselampe für zwofuffzich auf, und nur eine Viertelgehstunde weiter auf der Nanjing Road entdecke ich a.) ein Café mit Buchladen oder umgekehrt, b.) ein Hotel, in dem ich mir für eineinhalb Phantastillionen eine „Zeit“ plus einen „Spiegel“ kaufen kann, sowie c.) einen Supermarkt mit echtem Brot. Kaffee samt French-Press-Kanne kommen von
Starbuck’s, und somit sind die Parameter für ein funktionales Heim gesetzt. Bloß die Drogerie scheint noch nicht erfunden, wobei gerade eine solche für meine möglichst schleunige Mutation von der touristischen Lebensform in eine urbane unabdingbar wäre. Aber ich arbeite daran.
Ansonsten hat Shanghai, soweit ich das überblicke, alles, und zwar auch unter architektonischen Gesichtspunkten. Die Stadt präsentiert sich mir mit unermüdlich vielfältigen Gesichtern, ein Traum für den Urbanflaneur. Die Nanjing Road führt von ihrem westlichen Beginn durch Wolkenkratzermoderne mit Edelshoppingmalls am Trubel des Peoples’ Square vorbei bis zum legendären Bund an ihrem östlichen Ende. Dort komme ich mit perfektem Timing an, bei Einbruch der Dunkelheit.
Atemberaubend. Der Bund am Westufer des Huangpu-Flusses ist ein Spalier von Prachtbauten der ersten dreißig Jahre des vergangenen Jahrhunderts, eine Architektur-Juwelenkette aus neoklassizistischem, neogothischem, neorennais¬sanceskem, neoeklektizistischem und neowasimmerschen steingewordenen Spektakel, des Nachts golden illuminiert. Und wen das noch nicht von den Socken haut, der wende sein Blick zum gegenüberliegenden Ufer, an dem sich die Sciencefiction-Skyline von Pudong erhebt. Türme blinken, über gigantische Glasfassaden flimmert Werbung in astreiner
Bladerunner-Ästhetik. Weder Replikanten noch fliegende Autos oder Harrison Ford erschienen in diesem Zusammenhang übertrieben.
Atemberaubend, nur nebenbei, ist auch das Klima. Zwar konkurrieren die reinen Nettotemperaturen keinesfalls mit denen Zentralasiens, dort aber herrschte Wüstenklima, hier herrschen ca. 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, und das tun sie grausam. Resultierend ist man ständig schweißüberströmt und sabschig, was meiner angestrebt nonchalanten Urbanerscheinung eher abträglich ist. Außerdem, wie erwähnt, stinkt mein Rucksack erbärmlich, muß mich nächste Woche in Hamburg dringend equipmentmäßig neustarten.
Zwei, drei Dinge, mein Erscheinungsbild zu modifizieren, habe ich mir bereits besorgt, wobei ein jeglicher Einkauf hier bis an die Grenzen menschlichen Ertragens strapaziert. Eine der ersten Erkenntnisse über China: Die Löhne müssen zu niedrig sein. Denn überall, wo Dinge verkauft werden, drängen sich Dutzende Verkäuferinnen, die sich im Verhältnis 20:1 auf den hilflosen Kunden stürzen wie Dschingis Khan auf die zentralasiatischen Reiche. Selbst im Supermarkt, einer Erfindung, die definitionsgemäß auf dem Prinzip beruht, daß der Kaufende sich körbchenbewehrt seine Anliegen selbst zusammenklaubt. Ich bin, kein Scheiß, in einem Supermarkt gewesen, in dem ein Einkauf unmöglich war, in jedem Gang traten sich bis zu sechs Verkäuferinnen auf die Füße, es war schlicht kein Durchkommen. Ich bin dann wieder rausgegangen, was hätte ich tun sollen.
Aber auch in kleineren Geschäften heften sich bestenfalls ein bis zwei Stalkerinnen dem potentiellen Opfer an die Fersen, folgen ihm in zehn Zentimeter Abstand, atmen hyperventilierend den Käufernacken hinunter und prallen mit einem zusammen, dreht man sich unvermutet um. Schlimmstenfalls wirft sich eine enthemmte Dame auf den erschrockenen Kunden und schlägt und schwenkt ihm derartig viele Dinge ins Gesicht, die er weder will noch braucht noch leiden kann, daß es unmöglich zu sagen ist, ob es im Angebot auch was gegeben hätte, das man hätte kaufen mögen, man bekommt ja keine Gelegenheit, es zu sehen.
Nun dachte ich, dieses Dilemma beruhe auf einer Überempfindlichkeit meinerseits – die Zahl der Menschen weltweit, die mir was nicht verkaufen konnten, was ich wollte oder brauchte, weil sie mich zu nötigen versuchten, ist Legion –, an Tag Vier aber lese ich im
Shanghai Daily eine Kolumne darüber, wie ebendieses Phänomen auch den Verfasser in die schreiende Paranoia treibt. Besonders bizarr sind diese aufgezwungenen Verkaufsgespräche natürlich dadurch, daß sie in einer Sprache stattfinden, von der in meinem Falle die Zwangsberatene kein einziges Wort versteht. Ich möchte hiermit anregen, die Hälfte aller Shanghaier Verkäuferinnen umzuschulen und bei den deutschen Elektronikkaufhäusern einzustellen, wo die gebleichten Gebeine der Kunden, die auf fachliche Beratung harrten, Gänge und Flure säumen.
Apropos säumen, um hier mal die holprigste Überleitung des Monats September zu kreieren: Viele Bäume säumen die Straßen der Stadt, viele Viertel locken zum Spazieren, recht konträr zu den kursierenden Vorstellungen von chinesischen Großstädten als lebensfeindliche Moloche. Die Prognose geht übrigens dahin, daß sowohl Peking als auch Shanghai im Jahre 2050 mehr als 50 Millionen Einwohner haben werden. Ich möchte mit dieser Zahl mal eben überfordert sein dürfen, bitte, danke.
Pudong habe ich erst anflaniert, anläßlich eines Besuchs der Ausstellung „Upgrading China“, zu der mich das Goethe-Institut einlud, Architektur und Kunst chinesischer und deutscher Provenienz gab es zu sehen, und zwar wahrlich aufregende Architektur – unter der Prämisse ökologischen Bauens und Wohnens. Brennendes Thema, überlegt man sich, daß künftige Städte 50 Millionen Einwohner werden verkraften müssen.
Überaus flanierfreudig aber gestalten sich erwiesenermaßen die Bereiche der ehemaligen französischen Konzession, wo es sich in Zwanziger-, Dreißiger-Jahre-Architektur schwelgen läßt, die, belebt von hippen Boutiquen und Designer-Gastronomie, den Spagat ins 21. Jahrhundert grätscht. Versuchte hier unlängst, meine erste Milonga aufzutreiben, fiel aber dieswöchig aus, werde es nächsten Dienstag erneut probieren.
Dem Charme des
Tim-und-Struppi-Chinas läßt sich in der
Old Town nachspüren. Große Touristenmengen tun exakt dies, was mich aus dem nur prinzipiell träumerischen Yuyuan-Garten leider umgehend wieder hinausgrämt – Menschenmassen kann ich schwer verknusen. Drumrum alles ein bißchen arg vermallt, Souvenirshops zu Hunderten, jeder bestückt mit 25 ausgehungerten Verkäuferinnen, die wie ein Schwarm Geier auf den Touristen niederstoßen als sei er ein verendendes Tier. Da fühle ich mich ganz schnell wie ein ebensolches und schlage mich lieber in die kleinen Gassen, wo echte Menschen ein echtes Leben führen. Dort dann stolpere ich über zwei, drei kleine Nachbarschaftstempel, die mir gut gefallen. Ebenso gut gefallen mir die Lädchen mit theologischem Bedarf rundrum, in denen man nicht nur Geistergeld zum Verbrennen erwerben kann, sondern auch papierene Villen, Autos, Anzüge, Kühlschränke, Stereoanlagen, eben alles, was der Ahn im Jenseits nötig hat.
Ich hätte ja gern eine Statue von Wen Chang, dem Gott der Literatur, der aber scheint minderbeliebt, das Warensortiment dominieren Glücks- und Geldgottheiten. Im Tempel der Stadtgötter allerdings gibt es einen Wen-Chang-Schrein, ich habe meine Schriftstellergenossen darauf hingewiesen, ich denke: Nie wieder
Writer’s block, einfach dort ausreichend Andacht halten und Opfer bringen, dann läuft die Schreiberei wie am Schnürchen.
Apropos Schriftstellergenossen: Wir sind zu siebt hier eingeladen. Mit von der Partie sind Klil Zisapel und Benny Barbash aus Israel, Ana Margarita Mateo Palmer und Raul Flores Iriarte aus Kuba, Birgitta Lindqvist aus Schweden und Attila Bartis aus Ungarn. Wir treffen uns zum ersten Mal am Freitagabend, zur Willkommensparty des Shanghaier Schriftstellerverbandes.
Toll. Wie aufregend – ein ganzer Saal voller Schriftsteller und Dichter aus Shanghai. Wieder empfinde ich elektrisierende Freude und tiefe Dankbarkeit für die Chance, hier sein zu dürfen. Der Abend ist viel zu schnell zu Ende, möchte man doch nächtelang Kennenlernen, Diskutieren, Palavern. Man vetröstet uns zunächst mit einem Bücherpaket – Anthologien von Shanghaier Autoren – und verspricht uns, wir bekämen noch genug Gelegenheit dazu. Wobei mir zwei Monate, bei genauerer Betrachtung, minütlich kürzer erscheinen. Seit einigen Tagen liebäugele ich zudem mit dem Versuch, ein bißchen Mandarin zu lernen in den nächsten Wochen, nur so aus Daffke, nur um einen klitzekleinen Einblick zu bekommen, wie diese faszinierende Sprache wohl funktionieren mag, aber im Hinblick auf sinnvolles Zeitmanagement ist das wahrscheinlich eine Schnapsidee. Nichtsdestotrotz: Es verlockt gewaltig.
Birgitta spricht Chinesisch. Sie lebte 1969 bis ’71, inmitten der Kulturrevolution, in Peking. Ich bin perplex, ich wußte gar nicht, daß zu der Zeit überhaupt Westler hier waren. Nach dem Dinner – einem Buffet mit unerwarteterweise russischen Spezialitäten – trägt sie der Runde ein paar schmissige Kulturrevolutionslieder vor, nicht nur zu meiner Verblüffung. Sie, Klil und ich erweisen uns außerdem als die
Bad Girls-Fraktion, die im Anschluß den Rest der Rasselbande zum Biertrinken überredet. Birgitta spricht übrigens auch noch alle anderen Sprachen, sogar Deutsch, ich bin beeindruckt und wir verabreden, uns mal zu treffen, ich will Geschichten aus Peking hören, sie Stories von meiner Anreise, das klingt doch nach einem guten Deal.
Der aber warten muß. Vom 9. bis zum 12. September bin ich in Hamburg, auf Kurzurlaub in meinem richtigen Leben. Habe ich Heimweh danach? Nö. Eigentlich nicht. Nur meine Hundehautsocken, die vermisse ich. Ansonsten bin ich mit Shanghai gerade erst angefüttert. Ich bin noch nicht mal weg, als ich schon nach dem Zurückkehren Sehnsucht bekomme. Wir haben, ich bin mir sicher, noch so einiges miteinander vor, Shanghai und ich.
ich liebe diesen Blog! Bitte mach noch lange weiter so!!! Ich flige selbst nächste Woche zum ersten Mal nach Shanghai und bin schon sehr gespannt.
Liebe Grüße aus Hamburg
Anja