Mannigfaltige Tai-Chiisten, erwartungsgemäß. Manche vereinzelt, versunken, reglos über lange Zeitspannen. Andere in Grüppchen und synchron Schwerter schwingend, und natürlich sind Greisinnen mit großen blitzenden Säbeln das Allerschönste überhaupt. Unerwarteter die vielen Tanzgruppen, die sich durch eine Skala sämtlicher Hybride zwischen chinesischem, Jazz- und Gesellschaftspaartanz grooven, hopsen und geschmeiden. Etwas meditativer für den Morgenmuffel die Kalligraphen, die mit Wasser kunstvolle Schriftzeichen auf die Gehwegplatten schreiben, fachmännisch begutachtet von verweilenden Müßiggängern; ach, so ein sonniger Morgen im Jing’an Park, einen Bottich Latte von
The Coffee Bean in Händen, der läßt einen vergessen, daß man Lebensäußerungen zu einstelligen Uhrzeiten eigentlich ablehnt, und zaubert einem ein beseeltes Grinsen ins Gesicht!
Die erfreulichen Umtriebe aber beschränken sich keinesfalls auf die Parks – mit einer notgedrungenen Fünf-Uhr-früh-Expedition zur Metrostation versöhnt die Entdeckung, daß auch auf jedem breiteren Trottoir Platz für Gymnastik, Tänzchen und Tai-Chi gefunden wird. Gegenüber eben dieser Metrostation, auf einem kleinen Stück Freiraum vor einem Bürogebäude, direkt an der großen Kreuzung Changping und Changde, ist nahezu jeden Abend Tanztee – eine Menge Leute jeden Alters schwofen im Paartanz über’s Asphaltparkett, während in den Hecken Zikaden dazu dezent zirpen. Ich finde das berückend und möchte dergleichen hiermit per Dekret für daheim anordnen, bitte.
Nicht nur die Leibesertüchtigung behauptet sich im Stadtbild, wer’s geruhsamer mag, läßt sich auf einem Stuhl oder Schemel mit seinen Kumpels an einer Straßenecke nieder, schwatzt oder spielt Karten oder chinesisches Schach, läßt sich von den unweigerlich auflaufenden Kibitzen in die Karten gucken und vom Passantengetümmel keineswegs irritieren. Gleich an der nächsten Kreuzung befindet sich quasi ein Stammtisch, gegenüber von der kleinen Nudleria, die stets so verlockend duftet. Informellere Zusammenkünfte beschränken sich oft auf ein bis zwei Sitzgelegenheiten vorm Haus- oder Ladeneingang, wo es sich bei einem Teechen und einem Kippchen das Weltgeschehen beschauen läßt.
Die vielzitierten Pyjama- und Puschenträger in der Öffentlichkeit stehen mit diesen Phänomenen in engem Zusammenhang, ich finde sie weniger schrullig als hochsympathisch, ist doch in meinem Heimatviertel St. Pauli der Morgenrock oder Trainingsanzug ebenfalls eine durchaus akzeptable Ausgehmontur (wobei ich dort unlängst gar einen als Giraffe verkleideten Menschen sah, der vom gestählten St.-Paulianer nicht eines interessierten Blickes gewürdigt wurde). Die Ausdehnung des privaten Raumes in den öffentlichen ist traditionell natürlich auch schlicht durch beengte Wohnverhältnisse entstanden, ginge es aber nach mir, ich exportierte das Prinzip noch ins letzte Villenviertel, und vor allem in unsere aktuellen Innenstädte, wo immer mehr öffentlicher Raum als Einkaufszentren an Investoren verhökert wird, die dann widerwärtigerweise durch Hausrecht ihre Vorstellungen vom erwünschten Konsumenten vs. unerwünschten Rumlungerer durchsetzen dürfen. Lungerer dieser Welt, vereinigt euch! Werft den Fernseher aus dem Fenster (nur, wenn gerade keiner darunter rumlungert), schleppt das Sofa auf die Straße und haltet mit der Nachbarschaft ein Schwätzchen! Ich werde mir einen der hier überall erhältlichen Klappschemel zulegen und mich dazugesellen.
Daß man mich vorraussichtlich künftig auf dem Klappschemel an der nächsten Straßenecke antreffen wird, liegt natürlich auch daran, daß es unmöglich ist, eine Straße zu
überqueren. Es verhält sich hier nämlich so, daß es zwar durchaus Fußgängerampeln, wie wir sie kennen, gibt. Nur bedeutet dies keineswegs, daß deren Grünphasen dem Fußgänger eine Fahrbahnüberquerung gestatten, ermöglichen, gar garantieren. Die Shanghaier Fußgängerampelinterpretation lautet: Bei Fußgängerrot kacheln die Geradeausfahrer mit Vollkaracho über die Kreuzung. Bei Fußgängergrün schleudern die Rechts- und Linksabbieger mit Vollkaracho um die Ecken. Ein Abbremsen für den todesmutigen Pedestrianten ist nicht vorgesehen, selbst ein flüchtiger Blick auf möglicherweise zweibeiniges Leben gilt als ehrenrührig.
Ist eine Straßenüberquerung unvermeidlich, erhöht sich die Überlebenschance geringfügig bei Fußgängerrot, da die Geradeauskacheler leichter zu erkennen sind als die Umdieeckenschleuderer. An größeren Kreuzungen allerdings wachen Bürgerlotsen mit roten Armbinden darüber, daß man bei Rot nicht mal einen halben Fuß vom Bürgersteig auf die Straße setzt, um einen dann bei Grün gnadenlos der entfesselten Abbiegermeute zum Fraß vorzuwerfen.
Ich nehme an, im Laufe der Jahrhunderte werden dem Shanghaier evolutionär die Augen an die Schädelseiten wandern, wie es sich bei jedem Fluchttier – dem Pferd, dem Reh, dem Hasen – bewährt hat zur Vergrößerung des Gesichtskreises. Bis dahin ist zumindest hasenartige Behendigkeit gefordert, um hakenschlagend, standbeschleunigend und punktgenau abbremsend über eine Kreuzung zu preschen.
Doch selbst wenn man darin eine gewisse Geschicklichkeit zu entwickeln vermag, wird man unweigerlich von Motorrad-/Motorroller-/Mopedfahrern über den Haufen genietet werden. Die nämlich sind von jeglicher Verkehrsregel befreit, sie fahren geradeaus und/oder um die Ecken bei Rot und/oder Grün oder dazwischen, auf der richtigen wie auf der falschen Straßenseite, entgegen der Einbahnstraßenrichtung und auf dem Bürgersteig, manche fallen auch einfach vom Himmel auf einen herab. Selbstverständlich tun sie exakt dies bei Nacht ohne Licht, und ein beträchtlicher Teil tückischerweise mit Elektromotor, so daß nicht mal die Chance besteht, sie kommen zu hören. Desgleichen gilt für die Fahrradfahrer, von denen keiner auch nur ansatzweise am Leben zu hängen scheint.
Von Benny auf einem Treffen mit hiesigen Schriftstellern der Shanghaier Writers’ Association angesprochen, erhielten wir als Antwort auf diese Problemstellung, es handele sich nicht um Verkehrsdarwinismus, sondern um eine philosophisch-metaphysische Angelegenheit: Beim Überqueren der Straße müsse man sich in einen mentalen Zustand der Stärke und Unverwundbarkeit hineinmeditieren, bis diese Aura der Überlegenheit den Gegner in die Knie – bzw. zum Ausweichen oder Abbremsen zwänge.
Ich habe es mit dieser Technik versucht, und nach wochenlangen Übungen und geheimen Exerzitien in einem Shaolinkloster die Kreuzung Changde und West Nanjing betreten. Diese Zeilen diktiere ich meinem Medium ins Ouija-Board – eine etwas zeitraubende Angelegenheit, womit sich meine längere Blogpause dann auch erklärt und entschuldigt.
Vom Himmel fallende Fahrradfahrer und friedliche Mönche sind wirklich perfide Ausflüchte für fehlende Leserunterhaltung.
In Moskau ist das zu 100% tödlich, in Paris und China normal...
Herzlichst, ppz