Nein, ganz abgesehen von dem Respekt, den es einem abnötigt, mit welchem Aufwand die Chinesen ihre Welt dem Laowai zugänglich zu machen versuchen, ist das Chinglische ein Quell unendlicher Freude für den Menschen mit nimmermüdem Sprachspieltrieb. Statt steinöder Hinweistafeln und Werbeschilder pflastern funkelnde Sprachpreziosen meine Wege. Schon im Zug nach Ürümqi saß mir gegenüber ein Jungspund mit einer modischen Sporttasche, deren typographisches Dekor – mit dem vagen Inhalt, die Lebensfreude der jungen, hippen Generation trage das Neue China in die Zukunft – sich zu einem Manifest von derart dadaistischer Poesie fügte, daß ich zum Taschendieb hätte werden können; und fast täglich muß ich mich zügeln, nicht einem Passanten sein T-Shirt, auf dem sich Designtext zu surrealistischen Parolen aufschwingt, vom Leibe zu reißen.
Wie sich die Welt belebt! In all der traumschönen Unverständlichkeit, die ihr nun mal innewohnt, und die wir gemeinhin durch Versachlichung zu negieren suchen. Gibt es eine treffendere Warnung vor den unberechenbaren Gefahren des Daseins als das knappe DANGEROUS NO? Spendet es nicht elementaren Trost, wenn ein jeder Geldautomat mütterlich nach einer Transaktion anbietet, einen guten Ratschlag zu erteilen (und zwar, im Gegensatz zum oft ungebetenen Rat realer Mütter, optional)? Ist das Verbot, den Rasen zu betreten, nicht ein dröger Auswuchs der Entfremdung, während uns DON’T PLAY AROUND THE GREEN FOR LIFES unvermutet unsere existentielle wie spirituelle Abhängigkeit von Mutter Natur in Erinnerung ruft? Wobei folgerichtig wenige Meter weiter DO NOT DANGEROUS DEPTH OF WATER vor der menschlichen Hybris gegenüber den Naturgewalten warnt.
Spricht nicht ein „Aussichtspunkt“ lediglich vom effekthascherischen
Event-Horizont des isolierten Individuums, während KEEPING WATCH HOMELAND uns die tiefe Verwurzelung und Verantwortung spüren läßt, die wir gegenüber unserer Heimat empfinden und tragen sollten?
Aber auch abseits der spontanen erblühenden Metaphysik vermag es das Chinglische, selbst den profansten kapitalistischen Dienstleistungen und Warentransfers menschliche Wärme zu verleihen. Eine Massage, die zudem eine Botschaft hat, entspannt sie nicht Körper und Geist gleichermaßen? Besonders, wenn dabei auch noch meine Gegenwärtigkeit ausdrücklich geschätzt wird?
Unendlich ließe sich fortfahren, und ich kann sagen, daß die Poetisierung des öffentlichen Raumes eines der Dinge ist, die ich daheim am schmerzlichsten vermissen werde.
Mein bisheriger Favorit übrigens der Moment auf der Expo, als ich, menschenmassophob wie ich bin, zittrig und von Streßhormonen überflutet kurz vor dem psychologischen Freak-out stand, diesen Knopf entdeckte, dem es genauso ging wie mir: Er brauchte Hilfe. Geht es uns nicht allen so? Brauchen und suchen wir nicht alle Hilfe, eine große, übergeordnete Hilfe, um in unserem kleinen, endlichen und unerträglich komplexen Leben zurechtzukommen? Ach, armer kleiner Knopf, wie gerne hätte ich dir geholfen, hätte ich nur gewußt, wie. Immerhin, er war grün wie die Hoffnung, und ich bin mir sicher, das kann kein Zufall gewesen sein.