China ist, ich erwähnte es möglicherweise schon, groß. Sowohl wenn man zweieinhalb Stunden darüber fliegt und währenddessen mehrere Gebirge bestaunt, als auch wenn man schlicht mal eben zum Shanghaier Flughafen will, selbst da ist man nämlich zwei Stunden unterwegs. Kurz vor Landung in Xi’an weicht ein imposantes Gebirge nicht weniger eindrucksvollen endlosen Reisterrassen, die bis zur Horizontkrümmung die Erde mit filigranen grafischen Mustern überziehen wie ein psychedelischer Teppichboden. Beim Anblick der bereits schneebestäubten Gipfel vorhin überkam mich tiefe Stadtmüdigkeit. Dezidiert urbane Lebensform, die ich bin, schmiegt sich doch selbst mein stahlhartes Seelchen gelegentlich gerne an den Busen von Mutter Natur. Ich hoffe sehr, mal wieder ein paar Landschaften zu Gesicht zu bekommen.
Als erstes bekomme ich Udo wieder zu Gesicht, und die Freude ist groß. So unglaublich nett, wie er nun mal ist, holt er mich selbstredend ab am Flughafen, und er schenkt mir ebenso umgehend wie fürsorglich ein Feuerzeug, die werden einem hier an Flughäfen nämlich bei der Sicherheitskontrolle abgenommen.
Nach der Busfahrt in die Innenstadt, auch diese nicht unter eineinhalb Stunden zu haben, flanieren wir ein wenig in einem Park um eine Pagode herum, gemeinsam mit den Hunderttausendschaften, die heuer in Xi’an ihren Nationalurlaub verbringen (ich schätze, alle nativen Xi’anner zwängen sich zeitgleich in Shanghai auf den Bund). Bei Kaffee, so dünn wie Keira Knightly, verplaudern wir ein Stündchen in einem Pavillioncafé an einem kleinen See, dann beschauen wir ein possierliches Ensemble von Bronzestatuen, die rustikale Szenen und lokale Schrullen illustrieren. Die Provinz Shaanxi rühmt sich „Acht Sonderbarkeiten“, wenigstens glaube ich, es waren acht, behalten kann ich sie nicht. Wagenradgroße Brote gehören dazu; die Tradition, daß Frauen nicht nach außerhalb heiraten; ein Gericht, das aus nichts als Chilipaste auf Brot besteht; die Angewohnheit, auf Bänken nicht zu sitzen sondern zu hocken; und ich glaube, irgendeine bizarre Nudel war auch noch im Spiel, man hat’s hier ja mit der Nudel (siehe auch die Zweiundsechzigstrichzeichennudel in
Chinesisch. Betrachtungen einer Ahnungslosen vom 20.10.). Währenddessen telefoniert Udo in fünfzehnminütiger Taktung mit Hu Fan, der irgendwo im Getümmel umtriebig sein muß, aber uns anhand der von Udo durchgegebenen Koordinaten nicht zu finden vermag.
Wir machen uns schließlich vorerst ohne ihn auf den Weg, wir planen, im beliebtesten Feuertopfrestaurant der Stadt zu dinnieren, und das bedeutet aufgrund ebendieser Beliebtheit eine mehrstündige Wartezeit. Hurra. Wo doch Geduld zu meinen Primärtugenden gehört.
Doch siehe – man versteht hier die Warterei als eigentliches soziales Ereignis zu zelebrieren. Serviceparadies Xi’an! Das Restaurant hat den breiten Bürgersteig mit Tischchen und Schemelchen vollgestellt, verteilt Wartenummern, Pflaumensaft, Knabbererbsen und Gesellschaftsspiele an die Kunden, schwer vorstellbar, das eigentlich Restaurant könnte noch netter sein. Es gibt zudem allerlei zu gucken, unter anderem Zuckerblaskünstler, die nach dem Glasbläserprinzip aus heißer Zuckermasse Tierchenzoos am Stiel blasen, deren Formensprache an prähistorische Höhlenmalerei erinnert. Bin begeistert! Und ein Freund von Udo hat sich bereits eine Wartenummer für uns geben lassen, obgleich er heute dann doch nicht mit uns speisen kann, er bleibt aber noch mit Frau und Tochter auf einen halbstündigen Plausch am Tischchen hocken, und mir fällt mal wieder auf, wie unheimlich nett die Chinesen doch sind.
Xi’an hat sich in den letzten sechs Wochen verändert – es ist Herbst geworden. Tagsüber brennt noch die Sonne, aber die Luft ist klar und kalt. Der abendliche Sound der Superzikaden ist auf ein leises gelegentliches Hintergrundrauschen gedrosselt. Ich spüre erste Anflüge eines wehmütigen Herbstgefühls.
Was leider gar nicht runtergedrosselt ist, ist der Fernseher direkt über uns an der Hauswand, auf dem eine unglaublich bescheuerte Gameshow unglaublich ohrenbetäubend vor sich hinlärmt. Da ich sofort meine Stimme verliere, wenn ich mich gegen Krach durch eine Konversation schreien muß, stürze ich mich auf den nächsten freiwerdenden Tisch in einer Entfernung vom TV-Inferno, die den Lärmschutzbestimmungen gerade mal so entspricht, es trudeln jetzt nämlich mehr und mehr Menschen ein, mit denen man gerne konversieren möchte. Als da wären: André, der in Anhui Chinesisch studiert und hier zum einen seiner ehemaligen Gastfamilie einen Urlaubsbesuch abstattet und zum anderen uns auf unserer morgigen Landpartie begleitet. Dann ein arrivierter Schriftsteller, der mir seine dreibändigen Memoiren aus der Kulturrevolution schenkt, ebenso hochinteressant wie auf Chinesisch, tja. Seinen Begleiter halte ich für einen Kumpel, bis man der taubstummen Touristin später erklärt, es sei der Fahrer gewesen, der auch für’s Zigarettenreichen und generelle Begöschern zuständig ist. Zuguterletzt hat sich auch Hu Fan wieder angefunden, erneute große Wiedersehensfreude. Leider hat er zu arbeiten in den nächsten Tagen und kann nicht mitkommen auf unseren Ausflug. Er arbeitet als Reiseführer für deutsche Touristen und erzählt mir ein bißchen davon, es macht ihm Spaß, was ich mir gut vorstellen kann – ein bißchen traurig darüber, daß er nicht mitfährt, bin ich trotzdem.
Als unser Tisch nach ein paar Stunden dann frei ist, schwappt in mir schon derartig viel Pflaumensaft, ich kann mir kaum vorstellen, wie da noch ein Feuertopf Platz finden soll; aber geht, die Pflaumen rücken höflich ein Stückchen zusammen. Gottlob, denn Feuertopf ist toll! Eingelassen in den Tisch zwei große Bottiche, nach einem fondueähnlichen Prinzip funktioniert Feuertopf so, daß in dem einen Bottich eine höllenscharfe, in dem anderen eine würzig-milde Brühe brodelt, in die jeweils allerhand Zeugs geworfen wird und dann mit vor Jagdeifer zuckenden Stäbchen wieder herausgefischt. Ich übrigens bevorzuge die höllenscharfe Variante – die Shanghaier haben die merkwürdige Angewohnheit alles, aber auch wirklich alles zuckersüß zu essen. Das ist zunächst interessant und bisweilen überragend schmackhaft, nach einem Monat allerdings stellt sich eine gewisse Überzuckerung ein, und spätestens, wenn man in eine vermeintliche Salami oder Bockwurst beißt, die sich als Fleischlolli entpuppt, beschleicht einen der Gedanke, er sei in kulinarischer Hinsicht doch ernstlich von der Muffe gepufft, der Shanghaier.
Fleisch, Fisch, Meeresgetier – bemerkenswert die Aale, die trotz Enthauptung noch elektrisch zucken, nicht unbedingt zu Andrés heller Freude –, Pilze, Nudeln und Tofu springen artig ins Töpfchen, nur das Gehirn lasse ich aus, ich esse nichts, womit andere schon gedacht haben. Weil die spritzende Brühe schweinigelt, tragen wir putzige rote Schürzchen, und für die Brillenträger gibts Mikrofaserputztücher gereicht.
Zum großen Finale tritt noch ein Nudelschwinger zu uns an den Tisch und führt eine Mischung aus Schleiertanz und Lassokunststück auf, während dessen er einen Teigbatzen zu einer Achtmeternudel schwingt, die er, wie einst Indiana Jones seine Peitsche, quer über den Tisch knallt und milimetergenau vor unseren Gesichtern abstoppt. Bravuröse Darbietung, kann man nicht anders sagen. Nur daß während all dieser Stunden im Hintergrund auf Autoreverse ein und dasselbe Musikstück wieder und wieder läuft, nämlich eine trompetenlastige Version von „Happy Birthday to You“, hat Teile meiner Psyche weicher gekocht als jede noch so lange Nudel.
Außerdem bin ich derart vollgefressen, daß Udo mich nach Hause rollen muß (ich übernachte bei ihm im Gästezimmer). Ich singe währenddessen leise „Happy Birthday“ vor mich hin.
Anderntags erwartet uns frühmorgens ein Auto, das der gestrige Schriftsteller durch irgendwelche Beziehungen und Kanäle und Gefallensschuldigkeiten für uns aufgetan hat, mit Fahrer natürlich, er käme trotz all der Jahre hier nicht auf die Idee, selbst zu fahren, sagt Udo. Ich bin insofern hocherfreut, als daß mir in Bussen stets erbärmlich schlecht zu werden droht, außerdem sind wir flotter unterwegs. Nach einem Kaffee – André hat gestern Abend noch bei Starbuck’s welchen besorgt –, brechen wir auf, Richtung Hancheng, 200 Kilometer nördlich von Xi’an gelegen, der Kleinstadt am Gelben Fluß, wo die Familie von Udos Frau Lila lebt.
„Kleinstadt“ bedeutet auf gut Chinesisch: Bloß so ’ne magere knappe Million, oder auch eine mehr als gute halbe, irgendwo dazwischen wahrscheinlich, Pi mal Daumen, wir wollen hier ja keine Haare spalten. Nichtsdestotrotz ist das Flair ein deutlich anderes. Hancheng teilt sich in eine bezaubernde Altstadt und eine schlichte, aber nette Neustadt. Wir steuern zunächst einen großen Hinterhof in der Neustadt an, wo Lilas Mutter als Köchin für eine Bank arbeitet und die Eltern zugleich ihr Stadtdomizil haben. In der Kantinenküche – die Banker sind natürlich alle im Nationalurlaub – treffen wir die Familie: Lila und Kleinkindsöhnchen, ihre Eltern, eine unübersichtliche Menge Onkels und Tanten, Schwager, Schwippschwager, Schwägerinnen, sowie ein irgendwem zugehöriger, kregler siebenjähriger Springinsfeld.
Es ist ein ziemliches Buhei, wir bekommen erst Tee serviert und dann leckerste Hausmannskost, während André mit dem Springinsfeld Mickymaushefte liest und ich versuche, die Verwandtschaftsverhältnisse zu begreifen. Die engeren Blutsverwandten Lilas tragen interessanterweise alle quergestreift, während der Sohn von Lila und Udo Längs- mit Querstreifen kombiniert, ich nehme an, hier sind Mendelsche Gesetze im Spiel.
Daß Hancheng in der Tat ein Nest ist, werden wir in den kommenden Tagen bei unseren Streifzügen durch die Stadt feststellen, nicht nur kennt jeder jeden, es ist auch jeder mit jedem veronkelt. Der aktuelle Hauptonkel ist ein ungeheuer sympathischer und beeindruckender Mensch. Er arbeitet für eine Kohlekompagnie, in dieser Gegend wird Kohle abgebaut. In seinem Auto fahren wir, nach ausreichend Esserei und Geschwätz, aufs Dorf hinaus.
Unterwegs kriege ich dann schon mal ein bißchen Landschaft zu sehen, dicht besiedelt, trotzdem beeindruckend, in der Landschaft nämlich klaffen große Lücken. Die berühmten Löcher in der Landschaft, so also sehen sie aus. Rabiat tun sich plötzlich tiefe Täler auf, deren Ränder senkrecht abfallen, Flüsse haben sie kompromißlos in den Lößboden gegraben. Ein bizarrer Einfall der Geologie, wäre ich gläubig, vermutete ich Handkantenschläge Gottes.
Die Straßen zur Stadt hinaus sind eigentlich keine Straßen, sondern befahrbare Tennen. Man trocknet darauf großflächig seinen Mais, und erzielt nebenbei einen Verkehrsberuhigungseffekt, mit unseren Blumenkübeln vergleichbar. Bloß gelber.
Im Dorf treffen wir Lilas Oma, gemeinsam mit der wir eine weitere Familie besuchen, deren Verwandtschaftsgrad gerade einen Grad der Komplexität erreicht hat, daß ich daran nur scheitern kann. Zunächst wird gelungert und geschwatzt, vor allem mit den beiden entzückenden alten Damen des Hauses bzw. der Häuser, im Anschluß gehen wir spazieren.
Die Dorfhäuser zeigen sich nach außen abweisend, das Leben spielt sich in den Innenhöfen ab, um die herum sich die Wohnräume gruppieren. Überraschend sind die großen, bunten, prächtigen Portale, die sich nicht wenige der sonst grauen Häuser leisten, geschmückt von glücksbringenden Ornamenten, Göttern und Fabelgestalten. Mit kreativem Genius haben einige Hausbesitzer in die Betonauffahrt davor hübsche blumenartige Muster gestanzt, Udo läßt mich raten, womit; Zahnräder, sage ich; genauer gesagt, Fahrradkettenzahnräder, sagt er; ich finde das ziemlich pfiffig.
Die kleine Gasse zwischen den engstehenden Häusern ist ungepflastert und tendiert bei Regen zur Verschlammung, eine Kuh steht darin auf eine sehr chinesische Art im Wege (siehe auch:
Mission Manieren, demnächst auf diesem Blog). Das Dorf endet jäh an einem Loch in der Landschaft, ich spähe vorsichtig hinunter und ärgere mich, daß das irgendwie nicht auf ein Foto passen will.
Am Loch entlang schlendern wir in Richtung der Felder, wo wir reife Persimonen vom Baum naschen, und ich auf Udos Anraten wagemutig frischgepflückten Sichuan-Pfeffer probiere. Überaus verblüffend – zunächst schmeckt es, zerbeißt man vorsichtig ein Körnchen, ziemlich gut, gar nicht scharf; dann schmeckt es immer noch nicht scharf, aber der ganze Mund wird taub wie von Novocain bei einer Zahnarztbehandlung; weicht die Betäubung nach etwa zehn Minuten, behält man noch länger einen nunmehr säuerlichen Nachgeschmack.
Den wir, zurück im Hof, mit hausgemachten Nudelgerichten und den berühmten Dämpfbroten an Chilipaste vertreiben. Währenddessen erklärt mir Udo anhand eines Kinderposters, auf dem diverse Tiere mit ihrem chinesischen und englischen Namen abgebildet sind, Zusammenhänge der chinesischen Schrift und Sprache, denen überraschend viel Logik innezuwohnen scheint: Tiere, die sich irgendwie von der Form, der Anmutung oder vom Prinzip ähneln, teilen sich nicht nur das physische Design, sondern auch grundlegende Namens- bzw. Zeichenbestandteile. Würde ich Chinesisch lernen, ich würde es bei niemand anderem als Udo tun, erklärt er einem Zeichen, läßt sich sherlockholmeshafte Freude am Aufspüren der logischen Binnenstrukturen empfinden, und die Art, wie er die Zeichen aus ihrer bildlichen Herkunft heraus erläutert, prägt sich überraschend gut ein (wer’s tatsächlich tun will: Er trägt sich mit dem Gedanken an eine eigene Sprachschule in absehbarer Zukunft).
Auf dem Rückweg zu Lilas Haus erzählt er mir – ich erwähnte bereits an anderer Stelle, er ist der weltbeste Dingeerklärer –, daß letztes Jahr die Regierung Steuerbefreiung für Bauern verfügte, sowie eine Reihe von anderen Maßnahmen, wie freien Schulbesuch für Bauernkinder, durch die sich der Lebensstandard der Landbevölkerung erheblich verbessert hätte. In der Tat, wir sehen einige geradezu villenartige Neubauten. Nur daß diese Gesetze ausgerechnet am 1. April in Kraft getreten seien, wäre vielleicht etwas ungeschickt terminiert gewesen.
Im Garten ihrer Oma werden für Lila ausgiebig die Gemüsebeete geplündert, wo alles Mögliche wächst, Flaschenkürbisse in der Größe eines Vorschulkindes, Schnittlauch, rübenartiges Zeug ungeklärter Provenienz, Möhren, usw.; wir dürfen uns derweil in die Apfelbäume verbeißen, worüber ich tiefes Glück empfinde, ich liebe Obst vom Baum. Jeder Apfel verbringt schon seine früheste Blütenkindheit in einer kleinen Plastiktüte zum Schutz gegen die Insekten, so daß ihm jetzt eine nahezu unheimliche Perfektion innewohnt. Daß dies Sinn ergibt, zeigen die leeren Zikadenhüllen, die direkt daneben kleben; ich wußte gar nicht, daß eine Zikade keine entschiedene Lebensform, sondern bloß ein temporärer Zustand ist, die Zikade scheint irgendwann einfach aus ihrer Zikadenhaftigkeit auszuziehen. Meine zoologischen Kenntnisse sind möglicherweise kein Grund, der sich zum Prahlen anbietet.
Gen Abend fahren wir in die Stadt zurück, wo Onkel uns und die – immer noch dutzendköpfige – Kernfamilie zum Dinner ins beste Restaurant der Stadt einlädt. Die hiesige Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit ist noch beschämender als mein lückenhaftes Zoologiewissen. Wie immer wird im Separée gespeist, dieses hat einen Fernseher, der zur Kinderruhigstellung lärmt, sowie eine eigene Toilette. Die Kellnerinnen tragen fesche Uniformen, worauf Udos Sohn sofort den Fernseher sausen läßt und sich stattdessen auf die Kellnerinnen stürzt, er ist nämlich, so Udo, Uniformfetischist.
Dann wird mächtig aufgetragen, und dazu mächtig mit dem von Udo als Präsent mitgebrachten Obstler getoastet. Jeweils mit Ansprache, jeweils mit verschiedenen Prioritäten. Simultan weist uns Udo in die rituellen Gepflogenheiten ein, es sind derer unermeßlich viele: Der Jüngste am Tisch schenkt den Schnaps nach, immer randvoll, immer dem Ältesten zuerst, also Lilas Vater, danach Onkel, der die Party schmeißt. Stößt man an, dann in ebendieser Reihenfolge, wobei man das Glas eines Älteren bzw. Partyschmeißenden so berührt, daß sich die eigene Oberkante unter dessen Oberkante befindet. Zum Toast wird aufgestanden, jedenfalls wenn der Toast einen selbst bzw. alle Anwesenden betrifft, es gibt allerdings auch Toasts, die in verschiedenen Interessengruppen und wechselnden Allianzen untereinander ausgetragen werden. Schnaps trinkt man immer auf Ex und demonstriert den erfolgreichen Vollzug durch leichtes Neigen des leeren Glases, Bier nur, wenn man so blöd war, versehentlich „Ganbei“ zu sagen, weil man dachte, das hieße „Prost“, wo’s doch „Prost-auf-Ex“ heißt. Zigaretten werden immer allen angeboten außer den Frauen, die nicht rauchen, außer mir, der dann auch Zigaretten angeboten werden, und man offeriert unabhängig davon, ob der Empfänger gerade schon zwei bis drei raucht. Schnaps gibt’s für die Frauen eher ebenfalls nicht, außer manchmal für einige, nach vorheriger Nachfrage und eingeholter Zustimmung, während Männer (und ich als Pseudomann) anscheinend durchaus mal eine Runde aussetzen können, aber ja nicht zu oft.
Bevor mich die Komplexität all dessen völlig in furchtsame Lähmung treibt, stehe auch ich auf und bedanke mich blumig für die Einladung und die überbordende Freundlichkeit, André übersetzt, so tragen wir beide unseren Teil bei. André übrigens, dem als Jüngsten der Mundschenkjob zugefallen ist, hat alle Hände voll zu tun.
Das Essen, das sich mit immer neuen Gängen endlos auf der Drehplatte manifestiert, ist schiere Schwelgerei. Ich brenne das Shanghaier Zuckertrauma mit allen Variationen von deliziöser Schärfe einfach aus. Es wird mir der Abend als das beste Bankett meines Chinaaufenthaltes in Erinnerung bleiben.
Der Aufbruch erfolgt dann mit typisch chinesischer Plötzlichkeit. Ich stelle in diesen Tagen fest, daß, wie es doch auch irgendwelche Elemente gibt, die den Zustand der Flüssigkeit nicht kennen sondern bei Erhitzung nahtlos von fest zu gasförmig übergehen, der Chinese nur zwei Aggregatzustände kennt: Entweder lungert er mit dem trügerischen Anschein von Stasis gemütlich herum, oder er ist blitzesschnell aufgesprungen und es muß in einer derartigen Plötzlichkeit losgehen, die nicht mal mehr Zeit läßt, zur Toilette zu gehen oder das Bier auszutrinken.
André und ich könnten im Wohnheim seiner Firma übernachten, hatte Onkel uns heute Mittag schon wissen lassen, was sich als ein Understatement an der Grenze zur faustdicken Lüge herausstellt: Er hat uns zwei große Zimmer in einem hochpreisigen Hotel gemietet. Da würden einem doch, selbst wenn man des Chinesischen mächtig wäre, die Worte fehlen vor soviel Generosität.
Am nächsten Tag, nach etwas Verwirrung über ein onkelseits spontan angekündigtes Frühstück vor dem Frühstück, das dann doch nicht stattfindet, und zwei Tassen Kaffee, die ich plietsch durch meinen Waschlappen seihe, holt uns – mit Onkels Auto – Schwager ab, der heute den Fremdenführer macht. Wir fahren zum Grab und Gedenktempel für Simaqian, den ersten und bedeutendsten Geschichtsschreiber Chinas, auf dem Gipfel eines kleinen Berges gelegen. Der Weg besteht zum Teil aus alten Mühlsteinen, von bäuerlichen Fans zur Huldigung hierhergebracht– die eigentliche Gabe nicht der Stein selbst, sondern die Anstrengung, ihn herbeizuschaffen. Von oben hat man nicht nur einen sehr schönen KEEPING WATCH HOMELAND (siehe:
Chinglish. Betrachtungen einer Aficionada vom 21.10.), sondern kann auch prima die gigantische Brücke bestaunen, die sich dort erstreckt, wo der Gelbe Fluß zu gegebener Zeit strömt (derzeit pfützt er eher, aber er kann auch anders, sagt Udo).
Der nächste Programmpunkt ist ein Besuch in Dangjia, einem historischen Dorf, das prinzipiell noch aus der Tang-Zeit übrig geblieben ist und sich gerade im Prozeß des Wandels zu einer Touristenattraktion befindet. Was gottlob noch keine Horden und Heerschaaren bedeutet, und Ausländer hier schon mal gar nicht. Das Dorf hat nach wie vor ganz normale Bewohner, von denen viele ihre historischen Innenhöfe zur Besichtigung öffnen und einige bereits in den Souvenirhandel eingestiegen sind.
Wir besichtigen Innenhöfe. Schwager ist, nunja, als Fremdenführer vielleicht ein klein wenig übermotiviert, jedenfalls käme ihm das Auslassen auch nur eines einzigen Innenhofes zutiefst ehrenrührig vor, während wir, nunja, ab dem zweiten oder dritten Dutzend eine gewisse uneingestandene Innenhofmüdigkeit zu fühlen beginnen.
Nachdem wir schlußendlich den finalen Hof absolviert haben, verbrenne ich an der abschließenden Pagode, Wen Chang, dem Gott der Literatur geweiht, ein paar große Räucherstäbchen – schließlich muß ich in wenigen Tagen mein überarbeitetes Romanmanuskript abgeben.
Wir fahren zurück in die Stadt, parken Onkels Auto vor dessen Wohnung, nehmen dann ein Taxi in die Altstadt, schlendern durch die Dämmerung, die sich gemächlich über die Altstadtgassen legt. Kleine Garküchen sprießen an den Ecken empor, in den historischen Gebäuden wird mannigfaltiger Einzelhandel getrieben, es ist berückend und versetzt mich, ein klein bißchen vielleicht, ins
Tim-und-Struppi-China zurück. Der Park hoch zur großen Pagode hat bereits geschlossen, aber ich fühle mich ohnehin gründlich aus- und durchbesichtigt. Trotz hyperaktivem Schwager – übrigens der Vater vom hyperaktiven Springinsfeld, wie auch sonst – setzen wir durch, daß wir uns ein Weilchen hinsetzen dürfen, an einen Platz, wo sich die stationären wie mobilen Garküchen ballen und man auf’s Herrlichste Leute gucken kann. Da Schwager bei mehr als fünfminütigem Leerlauf entweder zu im- oder explodieren droht, nimmt André ihn mit zur Beschäftigungstherapie an den Billardtischen, während Udo und ich Bier trinken, Fleischspießchen naschen und klönen, über China, Deutschland und den ganzen Rest.
So gern ich mir Dinge ansehe, manchmal muß man einfach verharren und der Welt Gelegenheit geben, einen aufzusuchen. Je tiefer die Sonne sinkt, umso lebhafter wird das Treiben um uns herum, zu den Herren, die seit Stunden oder Tagen oder Jahrtausenden in ein Gespräch vertieft scheinen, gesellt sich abendliches Promenier- und Amüsiervolk. Ein Greis, dem nur noch der Zopf zum langen grauen Zipfelbart fehlt, um als Märchenbuchchinese durchzugehen, spaziert mit jeweils einem aufgekratzten Enkelkind an den Händen einher, Jünglinge posieren lässig an den Billardtischen des nächsten Cafés, Girls streben der in – gottlob– einiger Entfernung einsetzenden Karaokechose zu. Ich sitze mit Udo einfach inmitten, lasse um mich herum China sein und erfreue mich daran zutiefst.
Schließlich läßt sich Schwager mit Billard nicht länger ruhigstellen, und wir brechen auf, eine gewundene Straße zur Neustadt empor, die gesäumt ist von Lädchen, in denen papierene Begräbnisgaben hergestellt und verkauft werden. Neben Papierblumengebinden sind das lebensgroße Stereoanlagen und Fernseher, halblebensgroße Polstergarnituren, überlebensgroße Vögel. Schmuck, Uhren, Anzüge, hübsche Frauen gar. Hübsche Frauen? Und was sagt die Witwe dazu? Die ist froh, wenn der Geist ihres Gatten im Jenseits Spaß hat und zu beschäftigt ist, um auf dumme Gedanken zu kommen, sagt Udo.
In der Neustadt wird im nächtlichen Park getanzt, Paartanz, nicht Disco, uns aber ist das zu laut, wir trinken noch ein Bier in einem Café am Stadion, ein Freund von Schwager hat sich unterwegs dazugesellt, die beiden sind Hundehautsocken (siehe:
29.8. Xi’an).
Udo rufen schließlich die Familienpflichten heim, André und ich sind hungrig und gehen in einem schlichten kleinen Restaurant um die Ecke vom Hotel etwas essen und uns verplaudern. Bemerkenswert ist, daß, als die Besitzerin, mit der André ein bißchen schnackte, sich schon ans Schließen macht, plötzlich von hinten, wo, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, sich nichts anderes befindet als die rustikale Toilette, ein großer Pulk ebenso ausgelassener wie angeschickerter Herren und Damen aus dem Nichts erscheint, quer durchs Restaurant torkelt und auf die Straße verschwindet. Ein Mysterium, wo die herkamen. Und was die dort getan haben. Sie müssen aus einer Subraumspalte gekommen sein, eine andere Erklärung habe ich nicht. Geheimnisvolles Asien.
Der nächste Tag beginnt mit Familienfrühstück in einem Restaurant, die leichte Verstimmung, die gestern Abend noch aus interkulturellem Mißverstehen geboren ward – man erwartete uns abends zum Dankesbesuch bei Onkel, was als Höflichkeit vorausgesetzt wurde, während unserereins es natürlich als mächtig unhöflich empfunden hätte, jemanden in seiner Privatwohnung unangekündigt zu überfallen –, scheint beigelegt. Die ganze Stadt ist heute übrigens voller Hochzeiter, es ist ein astrologisch glücksverheißendes Datum, an allen Ecken und Enden knallt und böllert es, und Karawanen von Hochzeitszügen ziehen in schwarzen Limousinen durch die Straßen.
Wir verbringen den späten Vormittag mit einem Spaziergang durch den Pagodenpark und einem ausgedehnten, trägen Besuch der Stadttempel, in denen entrückte Ruhe herrscht. Naja, zumindest im ersten Tempelkomplex, Konfuzius, Wen Chang und dem Wissen generell gewidmet. Im Stadtgöttertempel hingegen beschallen flächendeckend Lautsprecher, die sich mit Mimikry in Plastiksteingestalt in die Rabatten ducken, die ganze Heiligkeit mit Muzak in Berghainlautstärke.
Am Nachmittag großer Familienabschied in der Bankkantinenküche, herzliche Danksagungen, und für mich noch eine Tüte voller Äpfel. Lila und Söhnchen, die schon einige Tage vor uns hier waren, fahren ebenfalls zurück, wir nehmen den Bus, der sich mit 60 kmh nach Xi’an zurückschneckt, etwas quälend, zumal Udo und ich keinen echten Sitzplatz mehr erhaschen konnten und deshalb mit einem Brettchenbänkchen Vorlieb nehmen müssen.
Zurück in Xi’an verabschiedet sich André, der eine Verabredung hat, ach, immer diese Abschiede. Lila mag auch nicht mehr mitkommen, dafür begleitet uns ein Freund von Udo in dessen Lieblingsrestaurant. Dort gibt’s Schildkröte, und ich kann jetzt bloß hoffen, daß mein Lieblingsschneider nicht mitliest, sonst wird er mir Gram sein, er ist ein großer Freund der Schildkröte. Es gibt zusätzlich natürlich auch alles mögliche andere, Hauptact aber ist die Schildkröte. Sie kündigt sich an mit ihrem Blut, in Schnaps gemischt, was naturgemäß das Leben mächtig verlängert und eiserne Gesundheit gewährt und so, nur eben nicht der Schildkröte.
Als Ehrengast bekomme ich den Löwenanteil, und was soll ich sagen: Das ist ja nun mal richtig eklig. So blutsämig. Örg. Ich fordere all die
Twilight-Fans mal zum Anstoßen mit einem Blutschnaps auf, könnte gut sein, daß sich nicht wenige danach andere Objekte der Schwärmerei zulegen. Der Schildkrötengallenschnaps hinterher, giftgrün, hübscher Komplementärkontrast, schmeckt dagegen richtig erfrischend.
Wir reden über Literatur, hauptsächlich, und Sprache, ich erzähle vom Friesischen, Amring, Sölring und Föring, und den Literaturmarkt, ein weltweit deprimierendes Thema. Die Schildkrötensuppe, inmitten derer der Panzer dümpelt, ist vielleicht ein bißchen dünn geraten, aber lecker. Nur das kleine Krötenärmchen, das so verloren aus dem Sud winkt, stimmt einen doch ein bißchen traurig. Verzeih mir, Schneider.
Auf dem Rückweg tingeln wir durch diverse Hotels, im vergeblichen Versuch, ein Taxi für mich zum Flughafen zu bestellen, ich muß gegen 5:30 los, da fährt noch kein Bus, und außerdem ist Schichtwechsel bei den Taxenbetrieben, was bedeuten könnte: Es fährt einfach keines. Ich kenne das schon vom letzten Mal, die Sache mit dem Schichtwechsel, eher kommt Godot als ein Taxi. Und eine Taxenanforderung in Xi’an erweist sich als ein Ding der Unmöglichkeit. Die wenigen, die sich via Hotelservice bestellen ließen, sind schon bestellt. Ich stelle mich derweil auf einen Lebensabend in Xi’an ein, als Udos Freund gewieft genug ist, einfach eines anzuhalten um mit dem Fahrer die Tour persönlich auszuhandeln.
Zum Schlafen kommen wir nicht mehr, Udo und ich. Wir reden, rauchen und trinken Bier, bis das Taxi kommt, man weiß ja nie, wann man das nächste Mal die Gelegenheit dazu hat. Und ob. Ach, wie ich sie
hasse, diese Abschiede.
Ich döse im Taxi. Als das Flugzeug abhebt, ist es bereits hell geworden. Xi’an bleibt unter mir zurück, und wie schon beim ersten Mal stelle ich fest, daß ich ein Stück Herz daran verloren habe. Und immer noch nicht an einem heißen Sommerabend dort mit eiskaltem thailändischen Bier im Park gesessen und den Alten beim Opernsingen zugehört, während die Zikaden lärmen, wie das sonst nur chinesische Fernsehgeräte können. Ich muß dazu wohl wiederkommen.
In Shanghai nehme ich dann übrigens vom Flughafen den Transrapid, was ungeheuer cool ist und 430 Stundenkilometer schnell, in zwei Stunden wäre man von Hamburg in München, denke ich, eine Strecke, die wegen des hohen Passagieraufkommens neuerdings von 747s geflogen wird; aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Falls ich das noch schaffen werde und mich dabei nicht allzu sehr aufregen muß.
Und schoene Fotos! Das Loch in der Erde haette ich gern gesehen. Aber ich stelle mir einfach den Grand Canyon vor, der ja auch nur ein Loch im Boden ist.
Viel Spass, und liebe Gruesse