Um 13:30 Tumult auf dem Gang: Zwei junge Interrail-Pärchen zetteln eine Revolte an, prallen aber an unserem stoischen Igor mangels gemeinsamer Sprache recht ineffektiv ab. Das schwedische Mädchen, Eva, schnaubt vor Wut, Martin, der dazugehörige Schwede, weiß mir zu berichten, wir befänden uns in Belgrad, seit 8:30, und weiter ginge es wohl erst um 21:15. Eva schnaubt, sie wolle wenigstens wissen, was vor sich geht; ich erkläre ihr das, denn dazu braucht’s weder Bulgarischkenntnisse noch die geistigen Kapazitäten Stephen Hawkings: Da der Zug, an dem unsere zwei Sofia-Kurswagen hingen, nur bis Belgrad ging, und zudem zwei Stunden Verspätung hatte, müssen wir den Anschluß an die Lokomotive nach Sofia schlicht verpaßt haben, fertig ist die Laube. Außerdem erkläre ich ihr, sich zu ärgern mache exakt einen einzigen Unterschied: daß man sich ärgert. Und wir nähmen jetzt einfach unser Gepäck, deponierten es im Gepäckdepot und sähen uns dann mal schön Belgrad an, da bin ich nämlich noch nie gewesen.
Ich lasse mir vorsichtshalber auch selbst von Igor die Sachlage erläutern, und der Igor vom Nachbarwaggon gibt mir in irgendeiner höchst slawischen Sprache Sightseeingtips plus handgezeichnetem Stadtplan; sobald man sich nicht ärgert, sind die beiden bezaubernd.
Das holländische Pärchen hingegen ist paralysiert. Ich könne doch nicht einfach in die Stadt gehen, das sei doch gefährlich, wenn der Zug weiterfahre, sei das Gepäck weg. Hase, sage ich, ich lasse mein Gepäck gewiß nicht hier, und falls dieser Zug einst irgendwohin fährt, wird er gewiß vorher noch aus alter Gewohnheit an einem Bahnsteig vorbeischauen. Holland schenkt mir keinen Glauben, ihren schreckgeweiteten Augen sieht man an, daß sie sich weniger in Belgrad als in Bagdad wähnen. Sie haben noch einen knappen Liter Wasser und die Zuginnentemperatur liegt bei 40° und steigend. Ich schätze meine Überlebenschancen deutlich höher ein als die ihren.
Die zwei Schweden und ich brechen zur Expedition durch die Wastelands auf, Schienengewirr an Eisenbahnmuseum, treffen irgendwann aber tatsächlich auf einen Bahnsteig, dem wir zum dazugehörigen Bahnhof folgen. Am Gepäckdepot gabeln wir einen plietschen jungen Briten auf, der Serbisch spricht, wobei das klärende Gespräch am Infoschalter dann doch auf Deutsch stattfindet: Zwei tägliche Züge nach Sofia, unsere Wagen werden vorraussichtlich am Abendzug um 21:15 hängen, bis dahin passiert gewiß nichts.
Außer Belgrad. Wie schön. Wir trinken zunächst in einem Café literweise eiskaltes Wasser, essen vergleichsweise viele Dinge und haben Spaß. Dann schlendere ich alleine durch’s sommerlich heiße Belgrad, erfreue mich am Kalemegdan, alten Festungsanlagen mit spektakulärem Donaublick und weitläufigem Park, in dem es sich hervorragend lungern und lustwandeln läßt. Hier oben erwischt man zudem die eine oder andere kühlende Brise. Greise spielen Schach im Schatten, Kinder quengeln nach Eis am Stiel. In der Fußgängerzone Mihailova finde ich spätnachmittags ein Café mit tadellosem Cappuccino, Raucherlaubnis, exaltierten Lüstern und kostenlosem WiFi, und meinen Stecker darf ich auch in deren Steckdose stecken; ganz fabelhafte Stadt, dieses Belgrad, hatte Peter Handke doch recht, der alte Fuchs.
Auch meinen Zug finde ich abends problemlos dort wieder, wo ich ihn vermutete, am Bahnhof nämlich, ich erkenne ihn schon von weitem am Geruch. Um 21:45 setzt er sich gar in Bewegung, unter unseren anfeuernden Rufen und kollektivem Jubelgeschrei. Es bleibt abzuwarten, bis wohin wir kommen werden.
wie soll's ab Istanbul weitergehn?
- Man will ja gerne gute Ratschläge erteilen - und ein bisschen angeben mit den eigenen Bahn-Erfahrungen.
Also: Ich bin 1992 und 1993 jeweils mit dem "Bagdad Tren" gefahren, einmal von Haidarpasa über Malatya nach Dyarbakir und einmal über Gaziantep nach Nuseibin. Nicht der schicke Zug für Schickimicki-Reisende, sondern der für das "Prekariat" (Wer was auf sich hielt, fuhr Bus!) Da war ich einmal 23 Stunden im Zug! Immer irgendwo Pickinick! Das andere Mal mit Unterbrechungen durch Einladungen bei netten Leuten, Tage später weiter gefahren. War eine tolle Erfahrung!
Ich arbeite z. Z. in China. Und da bin ich 34 Stunden FAHRPLANMÄSSIG in einem Zug gewesen: Peking - Xiamen, kann ich nur empfehlen. Wegen meines Alters jenseits der Pensionsgrenze hab ich die Fahrt allerdings im Schlafwagen verbracht. Da lässt man auch tagsüber die Betten aufgeklappt. Super gemütlich. Immer heißes Wasser und Partizipation am Proviant der Mitreisenden.
Ich bin gespannt auf die nächste Etappe!
Iyi yolculuk canim!
oder: "... treffen irgendwann aber tatsächlich auf einen Bahnsteig, dem wir zum dazugehörigen Bahnhof folgen."
Danke erstmal und "weiter so", macht Spaß, mitzulesen.
Aber ich habe keine Zweifel daran, daß Du aus den abenteuerlichsten Situationen Dir die "UEBELsten" aussuchen wirst. Bin auf weitere Statements gespannt, wünsche Dir eine gute Weiterreise und viele interessante Begegnungen...
Bis bald wieder auf dieser Welle - Wolfgang