„Der Chinese“, sagt Udo bei meinem zweiten Besuch in Xi’an (siehe 3. - 7.10. Landpartie nach Hancheng), bezugnehmend auf eine Anmerkung meinerseits hier im Blog, „ist nicht nur ein großer Bauchlüfter. Er ist auch ein großer Im-Weg-Steher“.
Freitag, 29. Oktober 2010
Mission Manieren: Weitere Petitessen aus der Chinoiserie
In der Tat. Es ist kein Durchkommen in China. Man steht im Weg, mit einer Seelenruhe, die nur irgendeiner fernöstlichen spirituellen Lehre entsprungen sein kann; im Verdacht steht natürlich umgehend der Buddhismus, machen nicht auch die Buddhastatuen, egal ob sitzend oder liegend, in erster Linie den Eindruck von nahezu kosmischem Beharrungsvermögen?
Ich berichtete bereits vom Supermarkt, in dem sich nicht einkaufen ließ, weil die Gänge von unbeschäftigten Verkäuferinnen flächig belegt waren. In Supermärkten mit einem geringeren Angestelltenaufkommen läßt sich deshalb nicht einkaufen, weil dort Kunden diesen Job übernehmen. Das westliche Prinzip, nach dem man beiseite tritt, sieht man, daß jemand vorbei möchte, ist hier gänzlich unbekannt. Man verharrt. Sollte Hollywood einst auf die Idee kommen, das Leben Frau Lots zu verfilmen, rate ich zum Casting einer chinesischen Hauptdarstellerin.
Wer gerade nicht stehen kann, bemüht sich zumindest, in der Fortbewegung im Wege zu sein. Je schmaler der Gehsteig (oder auch der Bergpfad), umso langsamer – die durchschnittliche Chinesengeschwindigkeit gleicht der eines Gletschers –, zentrierter und in größtmöglicher Breitenausdehnung bewegt sich der Chinese voran, zur Effektivierung letzterer bedient er sich aller denkbaren Tricks und Kniffe, bei der Körperhaltung beginnend, unter Nutzung von Requisiten wie Einkaufstüten, Regenschirmen, Kinderwagen, und/oder durch Aufgebot von Masse – Gruppen, gleich welcher Größe, gehen stets nebeneinander; ist es sozial akzeptabel, wird ein Zwischendurch-Witschen durch Unterhaken oder Händchenhalten unterbunden.
Wer auf dem Gehweg/Bergpfad/Hotel- oder Supermarktgang entgegenkommt, hat ein Problem, das ganz dezidiert nicht das des Kontrahenten ist.
Dem wahren Meister aber begegnet man am Ende einer überfüllten Rolltreppe. Da nämlich bleibt er umgehend stehen, um entweder ein Schwätzchen mit der – untergehakten – Begleitung an seiner Seite zu halten, oder sich einfach mal in Ruhe die Gegend anzusehen.
„In China gilt das Prinzip: Erst einsteigen, dann aussteigen“, sagt mir Herr Treter vom Goethe-Institut Peking, als wir gemeinsam Metro fahren. In der Tat. Und seine volle Schönheit entfaltet dieses Prinzip erst in der Rushhour, wenn pro Waggon erst 80 Leute einsteigen, bevor dann 80 Leute aussteigen. Der Chinese ist nämlich auch ein großer Drängler und Vordrängler. Wer europäisch oder gar amerikanisch Schlange steht, wird das Vergehen von Erdzeitaltern hautnah miterleben können.
Dieses Phänomen ist natürlich allgemein bekannt und taucht regelmäßig im ein oder anderen Kontext in den Kommentarspalten der englischsprachigen Zeitschriften und Magazine auf – mal wird es auf die jahrtausendealte konfuzianische Tradition zurückgeführt, nach der nur die Familie zählt, nicht der Fremde; mal wohl nicht zu Unrecht darüber spekuliert, daß es unbeirrbare Sturheit erfordert, sich gegen 1,3 Milliarden andere zu behaupten –, weshalb ich mich auch nicht lange darüber ausmähren will. Einer Erwähnung wert aber sind die Anstrengungen, die unternommen werden, das Neue China nicht nur wirtschaftlich und architektonisch, sondern auch durch pädagogische Maßnahmen zu errichten.
Was mir schon bei meinem Pekingbesuch im Vorfeld der Olympiade auffiel und zudem damals durchaus das Medieninteresse erregte. Hier in Shanghai, sicherlich nicht ganz Expo-unabhängig, kulminieren die Benimmschulungen in der Metro. Auf kleinen Bildschirmen führt eine Cartoonkreatur, die möglicherweise einen humanifizierten Triebwagen darstellen soll, durch kurze Filmsequenzen, in denen artgerechtes Wohl- mit verwerflichem Fehlverhalten kontrastiert wird: Nicht zwischen die sich schließenden Türen springen, nicht auf die Gleise klettern, wenn der Freundin das Handy dort runter gefallen ist, Sitzplatz freigeben für Schwangere oder Gebrechliche, und dergleichen mehr.
Auf dem Bahnsteig bemühen sich Metallintarsien im Fußboden, das Ein-/Aussteigeverhalten umzupolen oder wenigstens zu kanalisieren. Vor jeder Wagentür zeigen Begrenzungen und Pfeile an, daß mittiger Ausstieg und seitlicher Einstieg rechts und links davon wünschenswert wären. Falls das noch nicht so recht klappt, wird das Auf-die-Gleise-Drängeln eines Mitmenschen mit möglicher Todesfolge dadurch verhindert, daß der Bahnsteig von den Gleisen mit einer Glaswand abgegrenzt ist, in der sich Schiebetüren synchron zu den Waggontüren öffnen. Im Zweifel wird der Kampf um die Wohlerzogenheit auch mittels einer Materialschlacht geführt. Anscheinend aber ist keine Hürde zu hoch, als daß sie nicht von einem wahrhaft entschlossenen Individuum genommen werden kann – laut Shanghai Daily wurde unlängst eine zwischen den Waggontüren eingeklemmte Frau mit- und direktemang ins Krankenhaus geschleift.
Ein Sieg hingegen, zumindest im Urbanen, zeichnet sich langfristig am zweiten großen pädagogische Frontverlauf ab, der Kampagne gegen die berüchtigte Marotte des öffentlichen Ausspuckens, welches sich durch ein schlörgendes Röhren ankündigt, während dessen sämtliche überzähligen Körperflüssigkeiten aus noch den verborgensten Organen durch exorbitanten Unterdruck zusammengezogen werden, und das im Auswerfen eines großen Klumpens semikompakten Auswurfes kulminiert; eine Praxis, die selbst ich, die ich normalerweise stets vehement dafür votiere, nationale Schrullen keinesfalls der globalisierten Stromlinie zu opfern, nicht unbedingt für die UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes nominieren würde.
Andererseits – als ich dann durch die Berglandschaft von Huangshan wanderte, untermalt von dem unverkennbaren, urwüchsigen Schlörgelröhren, das allerorts von den einer klassischen Tuschezeichnung entsprungen scheinenden, schroffen Hängen hallte, ertappte ich mich dabei, nostalgisch zur Simon-and-Garfunkel-Melodie This is the Sound of China zu summen, während die Krüppelkiefern sich vor dem Abendhimmel abhoben wie anmutige Kalligraphien.
Ich berichtete bereits vom Supermarkt, in dem sich nicht einkaufen ließ, weil die Gänge von unbeschäftigten Verkäuferinnen flächig belegt waren. In Supermärkten mit einem geringeren Angestelltenaufkommen läßt sich deshalb nicht einkaufen, weil dort Kunden diesen Job übernehmen. Das westliche Prinzip, nach dem man beiseite tritt, sieht man, daß jemand vorbei möchte, ist hier gänzlich unbekannt. Man verharrt. Sollte Hollywood einst auf die Idee kommen, das Leben Frau Lots zu verfilmen, rate ich zum Casting einer chinesischen Hauptdarstellerin.
Wer gerade nicht stehen kann, bemüht sich zumindest, in der Fortbewegung im Wege zu sein. Je schmaler der Gehsteig (oder auch der Bergpfad), umso langsamer – die durchschnittliche Chinesengeschwindigkeit gleicht der eines Gletschers –, zentrierter und in größtmöglicher Breitenausdehnung bewegt sich der Chinese voran, zur Effektivierung letzterer bedient er sich aller denkbaren Tricks und Kniffe, bei der Körperhaltung beginnend, unter Nutzung von Requisiten wie Einkaufstüten, Regenschirmen, Kinderwagen, und/oder durch Aufgebot von Masse – Gruppen, gleich welcher Größe, gehen stets nebeneinander; ist es sozial akzeptabel, wird ein Zwischendurch-Witschen durch Unterhaken oder Händchenhalten unterbunden.
Wer auf dem Gehweg/Bergpfad/Hotel- oder Supermarktgang entgegenkommt, hat ein Problem, das ganz dezidiert nicht das des Kontrahenten ist.
Dem wahren Meister aber begegnet man am Ende einer überfüllten Rolltreppe. Da nämlich bleibt er umgehend stehen, um entweder ein Schwätzchen mit der – untergehakten – Begleitung an seiner Seite zu halten, oder sich einfach mal in Ruhe die Gegend anzusehen.
„In China gilt das Prinzip: Erst einsteigen, dann aussteigen“, sagt mir Herr Treter vom Goethe-Institut Peking, als wir gemeinsam Metro fahren. In der Tat. Und seine volle Schönheit entfaltet dieses Prinzip erst in der Rushhour, wenn pro Waggon erst 80 Leute einsteigen, bevor dann 80 Leute aussteigen. Der Chinese ist nämlich auch ein großer Drängler und Vordrängler. Wer europäisch oder gar amerikanisch Schlange steht, wird das Vergehen von Erdzeitaltern hautnah miterleben können.
Dieses Phänomen ist natürlich allgemein bekannt und taucht regelmäßig im ein oder anderen Kontext in den Kommentarspalten der englischsprachigen Zeitschriften und Magazine auf – mal wird es auf die jahrtausendealte konfuzianische Tradition zurückgeführt, nach der nur die Familie zählt, nicht der Fremde; mal wohl nicht zu Unrecht darüber spekuliert, daß es unbeirrbare Sturheit erfordert, sich gegen 1,3 Milliarden andere zu behaupten –, weshalb ich mich auch nicht lange darüber ausmähren will. Einer Erwähnung wert aber sind die Anstrengungen, die unternommen werden, das Neue China nicht nur wirtschaftlich und architektonisch, sondern auch durch pädagogische Maßnahmen zu errichten.
Wohlverhalten in der U-Bahn I: Keine Sprengungen
Was mir schon bei meinem Pekingbesuch im Vorfeld der Olympiade auffiel und zudem damals durchaus das Medieninteresse erregte. Hier in Shanghai, sicherlich nicht ganz Expo-unabhängig, kulminieren die Benimmschulungen in der Metro. Auf kleinen Bildschirmen führt eine Cartoonkreatur, die möglicherweise einen humanifizierten Triebwagen darstellen soll, durch kurze Filmsequenzen, in denen artgerechtes Wohl- mit verwerflichem Fehlverhalten kontrastiert wird: Nicht zwischen die sich schließenden Türen springen, nicht auf die Gleise klettern, wenn der Freundin das Handy dort runter gefallen ist, Sitzplatz freigeben für Schwangere oder Gebrechliche, und dergleichen mehr.
Wohlverhalten in der U-Bahn II: Keine Spuckungen
Auf dem Bahnsteig bemühen sich Metallintarsien im Fußboden, das Ein-/Aussteigeverhalten umzupolen oder wenigstens zu kanalisieren. Vor jeder Wagentür zeigen Begrenzungen und Pfeile an, daß mittiger Ausstieg und seitlicher Einstieg rechts und links davon wünschenswert wären. Falls das noch nicht so recht klappt, wird das Auf-die-Gleise-Drängeln eines Mitmenschen mit möglicher Todesfolge dadurch verhindert, daß der Bahnsteig von den Gleisen mit einer Glaswand abgegrenzt ist, in der sich Schiebetüren synchron zu den Waggontüren öffnen. Im Zweifel wird der Kampf um die Wohlerzogenheit auch mittels einer Materialschlacht geführt. Anscheinend aber ist keine Hürde zu hoch, als daß sie nicht von einem wahrhaft entschlossenen Individuum genommen werden kann – laut Shanghai Daily wurde unlängst eine zwischen den Waggontüren eingeklemmte Frau mit- und direktemang ins Krankenhaus geschleift.
Das gute alte Rein-Raus-Spiel
Ein Sieg hingegen, zumindest im Urbanen, zeichnet sich langfristig am zweiten großen pädagogische Frontverlauf ab, der Kampagne gegen die berüchtigte Marotte des öffentlichen Ausspuckens, welches sich durch ein schlörgendes Röhren ankündigt, während dessen sämtliche überzähligen Körperflüssigkeiten aus noch den verborgensten Organen durch exorbitanten Unterdruck zusammengezogen werden, und das im Auswerfen eines großen Klumpens semikompakten Auswurfes kulminiert; eine Praxis, die selbst ich, die ich normalerweise stets vehement dafür votiere, nationale Schrullen keinesfalls der globalisierten Stromlinie zu opfern, nicht unbedingt für die UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes nominieren würde.
Andererseits – als ich dann durch die Berglandschaft von Huangshan wanderte, untermalt von dem unverkennbaren, urwüchsigen Schlörgelröhren, das allerorts von den einer klassischen Tuschezeichnung entsprungen scheinenden, schroffen Hängen hallte, ertappte ich mich dabei, nostalgisch zur Simon-and-Garfunkel-Melodie This is the Sound of China zu summen, während die Krüppelkiefern sich vor dem Abendhimmel abhoben wie anmutige Kalligraphien.
Bedarf ebenfalls einer gewissen Umsicht: Elefantentransporte
Trackbacks
Trackback-URL für diesen Eintrag
Keine Trackbacks