Zur ersten Milonga in einer fremden Stadt erscheine ich für gewöhnlich vorwiegend in Muffesausen gekleidet. Es erfordert übermenschliche Überwindung, sich in diesen verqueren Elementarbegegnungsbeschleuniger zu begeben, mutterseelenallein, und zuvor meine Waffe, das Wort, an der Garderobe abgeben zu müssen.
Die erste Milonga ist schrecklich. Ich bin zu schüchtern für so einen Scheiß. Man hat keine Ahnung, wo das ist, wer dort ist, was das soll, das einzige, was einem plötzlich glasklar wird, ist, daß man gar nicht oder nur höchst grauenhaft tanzen kann. Dann verbringe ich meine Zeit damit, niemanden anzugucken, weil ich Angst habe, mit jemandem tanzen zu müssen. Bis ich mich daran erinnere, daß das einzige, was noch schlimmer ist, als mit jemandem zu tanzen, mit niemandem zu tanzen ist. Meine Therapeuten fangen für gewöhnlich nach einiger Zeit zu trinken an.
Auf dem Weg zur ersten Milonga, kurz bevor ich die eigentliche Tür zum mir fremden Raum öffnen muß, in außer Muffesausen erschwerend auch noch in Anziehsachen gekleidet, in denen man mir im wirklichen Leben niemals begegnete, rollen sich dann plötzlich Tangoklänge mir entgegen, vor mir aus wie ein roter Teppichläufer, den ich dann zwingend beschreiten muß. Kann. Will.
Achja. Und dann erinnert man sich: So war das. Während des ersten Tangos, der ersten Tanda, die dann doch irgendwie zustande gekommen ist, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit mit der sich auf einem x-beliebigen Planeten dahergelaufene Moleküle zusammentun um Leben entstehen zu lassen. Erinnert man sich, wie es war, wie es ist, wie gut es ist.
Der Tango ist ein Haus in der Fremde, bereits bewohnt von lauter Freunden. Man muß sich bloß erstmal über die Schwelle trauen.
Über die erste Schwelle begleitet mich Birgitta, in ein stylishes Mexican-Restaurant, innerhalb eines abgezäunten Wohnkomplexes in der French Concession gelegen. Die Shanghaier Tangoszene ist klein, Dienstagabend ist sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Vivian heißt mich willkommen – die bescheidene Dienstagsmilonga ist nur ein Ableger von Tango Bang, einem Studio, das Vivian und Charles in Pudong betreiben.
Vivian ist stets aufgekratzt, herzlich, überschwenglich und ein bißchen -kandidelt, und es ist unmöglich, sie nicht umgehend ins Herz zu schließen. Wann immer es geht, werde ich meine Freitag- und Samstagnächte im Tango Bang verbringen. Es sei nicht leicht, den Laden am Laufen zu halten, sagt Vivian, die Tangoszene sei so klein und wachse über die Jahre nur wenig. Sie ist nichtsdestotrotz mit allem nur denkbaren Enthusiasmus dabei – zum Mittherbstfestival gilt als Dresscode für die Damen das Tragen von Häschenohren, Ende Oktober gibt es eine Halloweenmilonga, zwischendrin sind argentinische Tänzer und Musiker aus dem Expo-Programm zu Besuch.
Ich weiß dies schon seit langem, nie aber ward es deutlicher: Tango ist eine Sprache. Es ist unabdingbar zu lernen: Vokabeln, Grammatik. Je besser man diese beherrscht, umso leichter fallen und intensiver werden die Gespräche. Ein getanzter Tango ist ein Gespräch. Es gibt Tangos, in denen man sich mit amüsanten, geistreichen Bemerkungen überbietet; es gibt Tangos, in denen man sich einander tief offenbart. Und manchmal tauscht man halt auch bloß Platitüden aus.
Einer meiner Shanghaier Lieblingstangomenschen sieht klein, steif und unscheinbar aus. Erst wenn man miteineinander tanzt, zeigt sich, welch verblüffend kreativer Schalk ihn reitet. Er spricht kein Englisch. I no speak english, sagt er vor unserem ersten Tanz. Macht ja nichts, sage ich. We speak Tango. Nach unserer letzten Milonga werden wir uns zum Abschied achtmal umarmen, und dann noch ein neuntes und zehntes Mal.
Die Tangoszene ist klein, man tanzt sehr klassisch und kämpft nicht selten gegen eine gewisse Steifheit an. Es dauert zwei Wochen, bis ich das erste Mal einen Wow-Tango tanze, dann allerdings auch gleich zwei an einem Abend, worauf ich daheim erst nach Stunden einschlafen kann. Umgehend in alle Protagonisten der Szene hemmungslos verknallt habe ich mich schon nach der ersten Milonga. Ist es nicht supergut, daß es stets die nettesten Menschen sind, die Tango tanzen?
Etwa zwei Drittel der Szene sind heimische Gewächse, das restliche Drittel besteht aus flukturierenden Expats und Touristen, was für Abwechslung sorgt. Aber – wie könnte einem Tango je langweilig werden.
Das einzige, was noch schöner ist als Tango Bang ist
La Esquina von Tango Go. In einer kleinen Eckkneipe, am Donnerstag, viel zu klein und eng ist es dort, um zu tanzen, daß wir es trotzdem tun, trägt zur Zauberhaftigkeit der Milongas bei. Sergiy, mit dem ich die Leidenschaft für und Freundschaft mit den jungen ukrainischen Schriftstellern teile, und Ping sind die Gastgeber, viele ihrer Schüler, charmante Jungspunde, behaupten sich tapfer auf der Tanzfläche, die einem Billardtisch mit zuvielen Kugeln und zuwenig Tisch gleicht. Aber im
La Esquina sind nicht nur Tänzer willkommen – wir fraternisieren familiär, trinken, schwatzen, rauchen vor der Tür. Ich fühle mich mit Wehmut an meine Heimathafenmilonga in der Matrix erinnert.
In Woche drei oder vier – es ist Nationalfeiertag, Ping trägt zu diesem Anlaß eine chinesische Flagge hinten auf den Rock gepinnt, Sergiy Kommunisten-T-Shirt und Michael, ein freundlicher Wahnsinniger, mit dem ich die Leidenschaft für und Freundschaft zu Schußwaffen teile, Uniform – fragt man mich, ob ich im Anschluß auf die Geburtstagsfeier einer Freundin mitkommen wolle, die im KTV, einem Karaokeschuppen feiere, und zwar einem ganz verruchten, man munkele von Drogen und Prostituierten. Klar will ich! Wir beladen zwei Taxis mit Tangojungs und brechen Richtung Halbwelt auf.
Auha. KTV also. Das muß man sich in etwa so vorstellen, als hätte sich Mobutu ein Feriendomizil im Gbadolite-Stil in Las Vegas errichtet. Die Eingangshalle so marmorn, gülden, verspiegelt und besäult, es hätten auch Turkmenbashi und der Schah Freude daran. Das Separée, in das uns Mädchen in flamboyanten Scheherazadekostümen führen, ist größer als meine Hamburger Wohnung, verfügt über quadratmeterweise Sofas und einen Billardtisch. Das erste, was wir beim Eintreten sehen, sind zwei bewußtlose Menschen auf dem Boden. Dies kann weltweit als sicheres Anzeichen für eine gelungene Party gelten.
Auf dem übergroßen Fernseher läuft enorm coole Musik einer chinesischen Band, deren Namen ich zu erfragen vergesse, wir werfen uns umgehend in ekstatische Tänze, abwechselnd wird von den Anwesenden via Mikro dazu gesungen oder gegrölt. Michael, stellt sich heraus, singt sehr gut; ein scheuer Jüngling aus unserem Tangotroß grölt sehr laut. Die Scheherazades reichen dazu Johnny Walker, und zwar derart mit Wasser verdünnt, es bedarf einer scharfen Analyse, bis ich feststelle, daß überhaupt Alkohol im Spiel ist. Wie kann man davon derart betrunken werden, frage ich mich mit Blick auf einen der Bewußtlosen, dem man zwei Zigaretten in den Mund gesteckt hat, zur Dekoration. Scheuer Jüngling demonstriert es wenig später: Scheherazade hat ein Dutzend Schnapsgläschen in einem Gebinde auf’s Tischchen gestellt, er leert das Dutzend nacheinander komplett. Aha, verstehe, so geht das also.
Flotte Musik geht zu schnulzigen Balladen über, scheuer Jüngling grölt noch lauter und disharmonischer. Sergiy und ich zeigen uns wenig assimiliert und trinken Whisky und Wasser getrennt. Die Scheherazades bringen kunstvoll arrangierte Obsttellerchen und Cremetorte, die niemand so recht zu würdigen weiß, sie übersteigen bei ihren Servicetätigkeiten die Bewußtlosen graziös. Das Geburtstagskind steckt in einem lila Stretchminikleid und tanzt enthemmt mit ihren Gästen. Überall wird ausufernd, wenngleich wässrig angestoßen, irgendwer pflückt die Dekozigaretten aus dem Bewußtlosen und raucht sie weg. Ich tanze bisweilen und bin durchgehend enorm amüsiert. Sergiy beginnt eine Billardpartie, zwei oder drei Leute unternehmen einen halbherzigen Versuch, die Bewußtlosen aus dem Weg zu räumen, man tritt ja dauernd drauf, es hilft aber nichts. Der scheue Jüngling brüllt derart ins übersteuerte Mikro, daß ich heimlich zu hoffen beginne, er möge sich alsbald daneben legen. Ich selbst verweigere eine Gesangseinlage und widme mich stattdessen den ungewürdigten Melonenschnitzen.
Der Abend endet, wie so ein Abend nur enden kann. Der Bewußtlose kommt zu sich, ergreift das Mikro und schlägt es so lange auf den Fernseher, bis der kaputt ist. Worauf das KTV von Sicherheitskräften abgeriegelt wird, die niemanden gehen lassen wollen, bis man den Fernseher nicht bezahlt hat. Wir machen uns Sorgen, das Geburtstagskind aber ist zum einen Juristin, zum anderen, so heißt es, mit dem KTV-Besitzer befreundet, sie sagt, sie bekäme das schon hin und schwankt dabei nur leicht.
Wir nehmen zwei Taxis zum Seafoodsträßchen und essen pfundweise Mikrohummer, was viel Arbeit bedeutet, eine unglaubliche Sauerei ist und enorm lustig. Was für ein gelungenes Après-Milonga-Programm, denke ich. So man nicht diejenige ist, die den Fernseher bezahlen muß.
Habe ich hier schon mal irgendwo erwähnt, wie sehr ich Abschiede
hasse? Die beiden letzten Milongas brechen mir schier das Herz. Im Tango Bang gibt es einen „Snowball“ für mich, was bedeutet, daß jemand, der entweder Geburtstag hat oder verabschiedet wird, einen Tango tanzt, während dem er oder sie von den Anwesenden jeweils nach ein paar Takten abgeklatscht wird. Ich tanze zunächst mit Vivian, dann mit allen anderen meiner Tangomenschen. „Don’t go“, sagt einer; der nichtenglischsprechende kleine Unscheinbare und ich machen Faxen zusammen und bringen die Zusehenden zum Lachen. „Die Welt ist rund“, sagt irgendwer, „wir sehen uns wieder!“ Nach der
Cumparsita, dem allerletzten Tango, stellen wir uns zum Gruppenbild auf, und es dauert noch bestimmt zwanzig Minuten, bis ich alle einigermaßen ausreichend umarmt habe.
Die letzte
La Esquina-Milonga liegt auf meinem letzten Abend in Shanghai. Ich habe vorher noch einen Auftritt beim
Get it Louder!-Kunstfestival und befürchtet, es nicht mehr zu
La Esquina zu schaffen, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Tango. Halloween hier gleichermaßen, Ping ist ein Engelchen, Sergiy ein Pirat, Michael gewinnt als Phantom der Oper den Kostümpreis; ich bin als berühmte Schriftstellerin verkleidet, sage ich, und trage das
Get-it-Louder-Plakat. Letzte, allerletzte Tänze.
La Poema mit Werner, einem Deutsch-Argentinier, wir sehen uns das nächste Mal in Hamburg in der Matrix, sagt er, er kennt Hamburg. Eine di-Sarli-Tanda mit Andrew. Zwei Tangos der finalen Tanda mit Sergiy. Dann
La Cumparsita mit einem neuen Gesicht. Dann ist es vorbei, Abschiede, wie ich Abschiede hasse.
Ein bißchen zögern wir den Letzten noch heraus, fahren gemeinsam zur nächtlichen Hummerorgie Reloaded. Wir pulen Hummer bis drei Uhr morgens und toasten einander in all unseren Sprachen zu, Chinesisch, Ukrainisch, Türkisch, Finnisch, Deutsch, Englisch. Wundere dich nicht, wenn wir alle eines Tages in Hamburg vor deiner Tür stehen, sagt jemand; tut das, sage ich und meine es so, unbedingt. Und dann gehen wir tanzen.
Ich freue mich sehr über diesen Eintrag, auf den ich schon lange gewartet hatte.
Was Du über den Tango als Freundeshaus in der Fremde und als Sprache mit Vokabular und Grammatik schreibst, unterschreibe ich sofort.
liebe Grüße aus Hamburg ~*