Sofia, wie schön. Wie schön vor allem, tatsächlich hier zu sein, frühmorgens. Leider sind meine Vitalzeichen wegen Schlafmangels nur schwach, und prompt fange ich mir einen Lästling. Der Lästling weist mir ungefragt den Weg zum Gepäckdepot, dann weist er mir trotz meines zähen Widerstands den Weg zum RILA-Office, wo ich rausfinden muß, in welchem Zustand sich die Realität befindet: Zugverkehr nach Istanbul vs. klaffender Schlund zwischen hier und da. Lästling bleibt in der Warteschlange weiterhin an mir kleben und geht auch durch Gabe von ca. einem Euro in Wie-auch-immer-die-Währung-gerade-heißt nicht ab. Hinterher will er fünf, ich lache ihn aus, gebe ihm zwei, wir scheiden als Freunde.
Naturgemäß
gibt es Züge nach Istanbul. Abfahrt 19:15, Umsteigen in Dimitrovgrad um 23:42 in die Liegewagen, morgens ab 6:00 allerdings tatsächlich noch zwei Stunden Schienenersatzverkehr mit Bussen, die Realität wählt den Kompromiß. Ich kriege die angeblich letzte Koje.
Wie ich es mir erhofft habe, ist beim Reisen per Zug spannend, wie sich die Welt mählich ändert. Wir sind es gewohnt, in einem generischen Flughafenterminal einzuchecken und X Stunden später durch ein nahezu gleiches wieder in die Welt zu treten, mitten in eine fremde Kultur. Ich verlasse Europa Zug um Zug, das Wortspiel ließ sich jetzt irgendwie nicht vermeiden, und es ist interessant, was sich langsam, sehr langsam verschiebt.
Bei Ankunft fühlt sich Sofia nahezu russisch an. War der Belgrader Bahnhof ein nettes Kleinod klassischer Architektur, so stehe ich jetzt im sozialistischen Beton. Ein düsteres subterranes Terminal, mit kargen Shops und kargen Imbißstübchen. Ich trinke einen 20-Cent-Espresso, am Nachbartisch trinken zwei Männer eine 2-Liter-Flasche Bier, es ist 8:30 morgens. Ein eher slawisches Frühstück.
War noch in Belgrad die Beschilderung fifty-fifty in lateinischer und kyrillischer Schrift gehalten, regiert hier ausschließlich Kyrillisch. Schon ist die Welt ebenso pittoresker wie unverständlicher geworden. Ich kann kyrillisch zwar lesen, was aber ja bei weitem nicht heißt, irgendwas zu verstehen.
Nicht, daß ich kyrillisch notwendigerweise als „uneuropäisch“ empfände, ich habe mit ein bißchen Reiserei in den letzten Jahren an meiner eigenen mentalen Osterweiterung gearbeitet, und die Griechen haben schließlich auch eine schrullige Schrift und sind trotzdem pleite.
Ich laufe Richtung Innenstadt, und mit jedem Schritt fühlt es sich weniger russig und mehr „europäisch“ an, whatever that means. Schwer festzumachen. Die Architektur spielt sicher eine Rolle, die Innenstadt Sofias ist wunderschön, Nebenstraßen mit hübschen alten Häusern, alle von Bäumen gesäumt, in der Sonntagsruhe hört man Vögel zwitschern. Haufenweise hippe Cafés mit üppig WiFi. (Wenngleich
Free WiFi allerorts wohlfeil ist – in Istanbul sogar in öffentlichen Parks –, so hapert’s doch zusehends an
Free Steckdose. Ich navigiere Computer, Kamera und iPhone stets auf dem allerletzen Watt und Volt, eine logistische Herausforderung.)
Auf der Shoppingstraße dieselben Ladenketten wie weltweit überall, Adidas, Nike, MNG, die ganze Mischpoke. Chart-, House- und Loungemusik. Die Markennamen erwartungsgemäß in lateinischer Schrift.
Wenn allerdings nun dauerhaft mein überaus erbärmliches Russisch die Konversation mehr voran bringt als das noch erbärmlichere Englisch meines jeweiligen Gegenübers, merke ich wieder, daß ich mich von meinem veralteten Standardeuropa entferne. In Belgrad sprach noch jeder Englisch, zumeist ausgezeichnet.
Ich sehe die erste Moschee. Sie steht Aug in Aug mit einer orthodoxen Kirche, in der eine Hochzeit stattfindet, der ätherische Gesang eines versteckten Chors fängt sich unter der Kuppel.
Die Musik abseits der Charts ändert sich. Unbewußt vernehme ich unterwegs immer wieder Melodien, die zunächst stets balkanesker wurden und dann mehr und mehr orientalisch, in subtil fließendem Übergang.
Ich verlungere ein müdes Stündchen im Park, tun alle anderen schließlich auch. Kernstück des Stadtparks ein gigantomanisches Juwel sozialistischer Überlegenheit, ich habe keine Ahnung, welch repräsentativen Funktionen es einst diente, jetzt hausen dort nur noch Gespenster. Nein, nicht ganz, ich mäandere durch bizarre Architektur um den verwaisten Komplex herum, und siehe, irgendwo oben hat sich in leeren Räumlichkeiten eine Hipsterbar angesiedelt, wie eine Flechte auf einem Relikt. Loungige Grooves legen sich über schrundigen Beton. Über die Brüstung blickt man in eine unterirdische Brunnenanlage. Sozialistenarchitektur kann man gar nicht hoch genug schätzen.
Abends begebe ich mich entspannt eine Stunde vor Abfahrt zum Bahnhof, um herauszufinden, daß der Zug in fünf Minuten fährt. Hatte ich in Belgrad noch die souveräne Einsicht, daß ich ostwärts wohl irgendwann Stunden verlieren werde, hat sich dieser brillante Gedanke hier dank meiner Übermüdung ebenso verflüchtigt wie eben diese nicht unwesentliche Stunde. Ich entreiße der Gepäckgreisin meinen Rucksack, breche meinen persönlichen Geschwindigkeitsrekord und erreiche röchelnd den Zug. Es ist der allererste, der auf die Minute pünktlich abfährt.